Fall des Monats November 2015

Rekonstruierter Fall aus 2.Hand:

Alarmierungsmeldung:
Chirurgischer Notfall: Weibliche Person mit „Leitersturz“.

Situation an der Einsatzstelle:
Der Ehemann der 68-jährigen Patientin ist vor Ort. Er war bei dem Unfallereignis anwesend  und kann detaillierte Angaben zum Unfallhergang machen. Seine Frau ist von der 6. Sprosse einer an der Hinterhofwand ihres Hauses positionierten Leiter abgerutscht und hat beim Einhaken mit dem rechten Bein im Sprossenzwischenraum ein Verdrehtrauma des rechten Beins erlitten mit starker Überstreckung im rechten Kniegelenk und subjektivem Gefühl des Zerreissens. Beim Aufkommen sei sie dann aufgrund einer Bodenunebenheit im linken Sprunggelenk umgeknickt.

Die Verletzte klagt nun über starke Schmerzen im rechten Kniegelenk und am linken Sprunggelenk und Fuß.
Erstbefund:

Die Patientin ist wach, orientiert. RR 150/80 , Puls 105/min.

Kein Anhalt für Schädelhirntrauma. Obere Extremität, Thorax, Abdomen und Beckenregion orientierend unauffällig. Kein Hinweis auf ein Wirbelsäulentrauma.

Es ist eine deutliche Schwellung im rechten Kniegelenk erkennbar. Druckdolenz ist verstärkt im Bereich der Kniekehle. Nach Aufschneiden der Hose wirkt der rechte Unterschenkel und rechte Fuß eher blass. Bei der Untersuchung des linken Beins  ist eine deutliche Schwellung und Fehlstellung im Sprunggelenksbereich mit erheblicher ventralwärtiger Prominenz der linken distalen Tibiakontur sichtbar. Im Notarztprotokoll ist keine Angabe zu Sensibilität / Motorik / Durchblutung der unteren Extremitäten zu finden.

Erstmaßnahmen :

Anlage eines intravenösen Zugangs. Monitoring mit nicht invasiver oszillometrischer Blutdruckmessung , Extremitäten-EKG und Pulsoxymeter: Blutdruck 140 / 90 mmHg , Puls 100 / Min. Sauerstoffsättigung bei 94 %.

Die Patientin wird von der Notärztin (Fachärztin für innere Medizin) über ihre Sprunggelenksluxationsfraktur und die nun geplante Reposition informiert.

Einleitung der Analgosedierung mit Dormicum V und S-Ketamin zur Reposition der Sprunggelenksluxationsfraktur. Die Reposition der Sprunggelenksluxation durch die Notärztin erweist sich anfänglich als schwierig. Dann aber Dokumentation einer im 3.Versuch schließlich besser durchführbaren Reposition. Es wird eine Vakuumschiene angelegt.

Im Notarztprotokoll sind auch post repositionem kein Angaben zu Sensibilität / Motorik / Durchblutung der unteren Extremitäten dokumentiert.

Unter der o.g. Analgosedierung kann nun eine akzeptable Transportfähigkeit der 68-jährigen Frau erreicht werden.

Mögliche Problemstellung ?

Welche Klinik wäre im aktuellen Fall als Zielklinik geeignet ?

4 thoughts on “Fall des Monats November 2015

  1. Neben der traumatischen Komponente klingt das für mich nach einer akuten pAVK.

    Aufgrund der fehlenden Angaben im NA-Protokoll ist die 6P-Regel nach Pratt nicht komplett anwendbar. Folgende Punkte können aber als gegeben angesehen werden: Paralysis (Ursache des Sturzes?), Paleness, Pain.

    Transportziel: Unfallchirurgische Klinik mit Gefäßchirurgie.

  2. In meinen Augen gibt es zwei Problme – der Unfallmechanismus und die Schwellung in der Kniekehle sowie die scheinbar reduzierte Durchblutung sprechen in meinen Augen für eine traumatische Gefäßverletzung – ein zerreißen oder anreißen der A.poplitea was unter Umständen auch mit einer Nervenverletzung einher gegangen sein kann da wenn eine Arterei reißt auch dieÜbrigen  Strukturen etwas abbekommen haben können – da bei dem linken Fuß leider keine Informationen zu pDMS vorliegen kann man nicht sagen wie bedrohlich die Situation ist – daher würde ich ebenfalls eine Klinik mit CT Angio – Gefäßchirurgie und UCH anfahren und telefonische den Verdacht auf Gefäßzerreißung im rechten Knie und die luxationsfraktur im linken OSG anmelden 

  3. Die linksseitige OSG-Luxationsfraktur ist sicherlich eine schwere Verletzung, in Relation der Dringlichkeiten erscheint sie gegenüber der Knieverletzung eher "chirurgisches Graubrot" zu sein.

    Unfallmechanismus und das vorliegende klinische Bild sprechen neben einem sicherlich zu erwartenden Kniebinnenschaden rechts für ein begleitendes Gefäßtrauma, z.B. einer traumatischen Dissektion der A. poplitea. Der periphere Pulsstatus wäre hier natürlich eine höchst essentielle Information.

    Die Zielklinik sollte neben einer Unfallchirurgie noch eine Abteilung für Gefäßchirurgie mit entsprechenden Diagnostikmöglichkeiten (Angio-CT) bereithalten.

  4. Auflösung zum Fall des Monats November 2015

     

    Von der Notärztin wurde glücklicherweise eine Klinik mit weitergehender Kompetenz (mit Abteilungen für Unfallchirurgie und Gefäßchirurgie) angesteuert.

     

    In der Klinik hat sich im Rahmen der sofort eingeleiteten Primärdiagnostik ( Angio-CT) die bereits bei der Diskussion des Forums geäußerte Verdachtsdiagnose für eine traumatische Gefäßverletzung mit traumatischen Dissektion der A. poplitea rechts bestätigt.

    Eine Schwäche der Fußsenkung und Zehenflexion sprach außerdem für eine Nervenmitbeteiligung bei der offensichtlich stattgehabten schweren Kniegelenksdistorsion/ Subluxation.

     

    Eine sofortige gefäßchirurgische Intervention bestätigte die Diagnose. Es wurde unmittelbar nach erfolgter operativer Revision der Arteria poplitea eine Kompartmentspaltung im Bereich der Unterschenkeletage durchgeführt.

     

    Klinischer und apparativer Untersuchungsbefund des linken Sprunggelenkes bei der Untersuchung im Schockraum:

    A.dorsalis. pedis und A. tibialis posterior sind nicht tastbar, der Vorfuß ist blass und kühl, die Patientin klagt weiter über starke Schmerzen im Fuß und Knöchelbereich.

     

    Der radiologische Befund des linken Sprunggelenks wird nun am Ende des November-Falls präsentiert

     

    Bei  fehlenden Pulsen und bei eingeschränkter Sensibilität im Fußbereich wurde die sofortige Reposition und unmittelbar nach der Gefäßrevision rechts die Osteosynthese der Sprunggelenksluxationsfraktur geführt.

     

     

    Anmerkungen zum Fall :

    Vor und nach Reposition von Luxationsfehlstellungen großer Extremitätengelenke ist die Prüfung und Dokumentation der distalen Durchblutungssituation , der peripheren Sensibilität und – soweit schmerzbedingt möglich- auch der peripheren Motorik  obligat. (Sorgfaltsnachweis und auch Absicherung des Notarztes gegen spätere Vorwürfe der iatrogenen Gefäß-Nervenschädigung beim Repositionsmanöver).

    Die Prüfung von Durchblutung, Motorik und Sensibilität nach dem Repositionsmanöver dient außerdem zur Weichenstellung für eventuelle notwendige Gefäß-Nerven-Revisionen. Eine engmaschigere Kontrolle  der D-M-S des Fußes (nach Reposition ) ist aus diesem Grund auch während des Transports empfehlenswert.

     

    Ob im vorliegenden Fall eine primär unvollständige Reposition stattfand oder ob es (nach angabegemäß erfolgreicher Reposition im 3 .Versuch) anschließend zu einer Reluxation gekommen ist, bleibt unklar.

    Die laut Röntgenbild verbliebene erhebliche Luxationfehlstellung hätte eigentlich nach dem beschriebenen 3. Repositionsmanöver auffallen müssen und hätte dann zu einem weiteren Repositionsversuch motiviert.

    Auf dem Röntgenbild ist eine weitgehend erhaltene tibiale Gelenkfläche erkennbar (abgesehen von dem abgesprengten kleinen hinteren Volkmann-Dreieck mit sagittaler Länge von kleiner einem Viertel der tibialen Gelenkfläche ). Bei diesem Befund ist die Reluxation eines korrekt reponierten Sprunggelenks während  des Transports wohl eher unwahrscheinlich.

    Zur Diskussion:

    Wenn man eine Gelenkluxation trotz Analgosedierung nicht reponiert bekommt, ist eine Kompetenz-Nachforderung zum Einsatzort ( z.B. abkömmlicher Chirurg der eigenen Klinik) oder ( falls Kliniknähe besteht) der rasche Hospitaltransfer des analgesierten Patienten keine Schande !

     

    Generelle Anmerkung zu Luftkammerschienen-Ruhigstellung:

    Luftkammerschienen im poppigen Signal-Orange werden zwar von allen Außen-Stehenden gut erkannt, lassen aber das Innen (Fehl-)Stehende dann unerkannt  (wie z.B. eine schleichende Reluxation). Daher sind Luftkammerschienen aus Klarsicht-Plastik günstiger. In einer solchen transparenten Schiene wäre ein kühler, blasser und deutlich fehlstehender Fuß sicherlich sofort aufgefallen.

     

     

    Dr. Gerrit Müntefering
    Chirurgie / Unfallchirurgie / Notfallmedizin
    Lessingstr. 26
    47445 Moers

     

     

     

     

     

     

     

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