Arbeitsgemeinschaft Notärzte in Nordrhein-Westfalen

Alarmierungsmeldung Samstag nachts um 02:30 Uhr:

Gestürzte männliche Person auf Straße mit Bewusstseinstrübung. RTW vor Ort mit NA-Nachforderung aufgrund kurzzeitiger Herdblicksymptomatik und Zungenbiss

Regenwetter. Der RTW war 4 Minuten nach Alarmierung am Einsatzort eingetroffen. Ein 39-jähriger Mann ist vom Anrufer (Autofahrer) auf der Straße liegend angetroffen worden und habe nicht auf Ansprache reagiert.

Beim Eintreffen des RTW liegt der Gestürzte auf dem Rücken. Er ist weiterhin nicht ansprechbar. Leichter Fötor alkoholicus. Eine Brille liegt 1 Meter weiter auf der Fahrbahn und ist zerbrochen. Die Kleidung des Patienten ist bei Regenwetter durchnässt.

Befund der Erstuntersuchung:

Kein A-Problem und kein B-Problem. Sauerstoffsättigung 94%. Lunge auskultatorisch seitengleich belüftet bei Vesikuläratmen. Seitengleiche Thoraxexkursion bei Inspiration und Exspiration.

Kein C-Problem: Blutdruck 140/80 mmHg Puls 100 /min mit rhythmischer Herzaktion.

Bei der Prüfung des D-Status ist der Gestürzte weiterhin bewusstseinsgetrübt und reagiert auf Außenreize nur angedeutet. Pupillen mittelweit bis eng, isocor, Reaktion auf Licht erhalten. Anfänglich ist eine kurzzeitige konsensuelle Blicktendenz nach rechts oben sichtbar. Bei der Inspektion der Mundhöhle linksseitiger Zungenbiss. Keine Zahnläsionen.

Bei der Erhebung des E-Status ist ein Monokelhämatom links erkennbar und eine Galea-Hämatom li parietooccipital ohne prellungsbedingte Hautläsionen bei rasiertem Kopf. Keine Blutung aus den äußeren Gehörgängen und aus der Nase. Keine Traumafolgen im Thorax-, Abdominal- und Extremitätenbereich

Die Jeanshose ist vom Regen durchtränkt. Eine Enuresis (bei Krampfanfall) ist nicht zu beurteilen, kein Uringeruch.

Erstmaßnahmen:

Durch die RTW-Besatzung Transfer des Gestürzten mit der Schaufeltrage auf die Vakuummatratze, die anschließend angeformt und entlüftet wird.

Anlage eines i.v. Zugang am rechten Handrücken und Infusion von 500ml VEL.

Das abgeleitete EKG zeigt einen unauffälligen Befund.

Kein Handy am Unfallort oder in der Kleidung auffindbar. Unter den am Einsatzort eingesammelten persönlichen Utensilien war auch das Portemonnaie des Patienten zu finden mit ein paar Cents im Geldfach und einem Schwerbehindertenausweis GdB 70 ohne Merkzeichen.

Keine medizinischen Dokumente. Keine Notizzettel mit Telefonnummern.

Nach Eintreffen des Notarztes erneute Vigilanzprüfung.

Der Gestürzte öffnet auf stärkere Außenreize kurzzeitig die Augen, ist aber nicht dauerhaft erweckbar.  Auf laute Ansprache können Äußerungen wie „ja“ und „nein“ vernommen werden, allerdings nicht situationsadäquat. Blutdruck 140/80 mmHg Puls 100 /min mit rhythmischer Herzaktion. SaO2 :93 %

Kontaktaufnahme mit der Leitstelle: Die Neurochirurgische Abteilung der nahgelegenen Universitätsklinik ist nicht aufnahmebereit. Die nächste Klinik mit neurologischer und neurochirurgischer Abteilung ist in einer Fahrzeit von 45 Minuten erreichbar.

Was ist ungewöhnlich / wäre noch zu klären?

Arbeitsdiagnose?

Atemwegsicherung?

Dr.med. Gerrit Müntefering

Arzt für Chirurgie / Unfallchirurgie

Lessingstraße 26

47445 Moers

5 thoughts on “Fall des Monats April 2024

  1. – Brille liegt 1 m entfernt vom Pat. auf Fahrbahn: von PKW/LKW erfasst? Raub? —> Executive einschalten
    – BZ-Wert?
    – Temperatur?

    Arbeitsdiagnose ist ein SHT II°
    Schutzintubation in Erwägung ziehen wegen 45 Min. Fahrtdauer

  2. An die Möglichkeiten, die S. Bertsch aufgezählt hat, habe ich auch zuerst gedacht. Alternativ wäre noch ein postikaler Zustand denkbar, vielleicht hat der Pat. den Schwerbehindertenausweis deswegen. Es ist zwar nicht so leicht, sich beim Sturz ein Veilchen zuzuziehen, aber bei Brillenträgern im Breich des Möglichen. Der Zungenbiss würde passen. Den BZ hätte ich auch gerne. Die parietale Schwellung ohne Hautverletzung muss nicht zwangsläufig ein Hämatom sein…?
    Trotzdem muss das SHT als schwerwiegendere Diagnose vorne stehen.
    Also für mich: Transport ins Haus mit Neurochirurgie. Trotzdem möchte ich die Intubation gerne möglichst verzögern, um im Falle eines postiktalen Zustands das Aufklaren nicht zu verpassen und eine Übertherapie zu vermeiden. Seitenlage dürfte mit der angebrachten Vakuummatratze schwierig werden. Im Falle eines Erbrechens soll der Pat samt Matratze auf eine zuvor festgelegte Seite gedreht werden. Also: Plan kommunizieren, Fahrt mit SoSi unter Intubationsbereitschaft, einsatzbereite Absaugpumpe. Die Temperatur noch messen und den Pat. ggf. noch intensiver wärmen/isolieren. Engstmaschiges Monitoring, um Verschlechterungen möglichst zu antizipieren. Ständige Reevaluation, ob der Benefit der Intubation inzwischen im Vordergrund steht. Eine primäre Intubation finde ich aber definitv statthaft.

    1. Primär gibt es vor Ort nur zwei DD‘s: Krampfanfall und sekundäres SHT oder primäres SHT.
      Ist aber auch eigentlich egal, denn GCS ist mindestens so schlecht, dass man handeln sollte/muss. 93% ist mäßig, RR stabil, HF grenzwertig tachykard.
      Schutzintubation, O2-Gabe, etCO2-Messung und dann ab…
      Egal ob Epilepsie oder SHT oder was auch immer (Shuntinsuffizienz, ggf. Narbe), die Sicherung Atemweg und Kontrolle Hirndruck steht an oberster Stelle. Monokelhämatom und Galeahämatom sprechen m.M eindeutige Sprache.

    2. Primär gibt es vor Ort nur zwei DD‘s: Krampfanfall und sekundäres SHT oder primäres SHT.
      Ist aber auch eigentlich egal, denn GCS ist mindestens so schlecht, dass man handeln sollte/muss. 93% ist mäßig, RR stabil, HF grenzwertig tachykard.
      Schutzintubation, O2-Gabe, etCO2-Messung und dann ab…
      Egal ob Epilepsie oder SHT oder was auch immer (Shuntinsuffizienz, ggf. Narbe), die Sicherung Atemweg und Kontrolle Hirndruck steht an oberster Stelle. Monokelhämatom und Galeahämatom sprechen m.M eindeutige Sprache.

  3. Weiterer Verlauf des April-Falls 2024
    Genau der Gedanke, der von Kollegen Bertsch geäußert wurde und auch Steffi mitgeteilt wurde, ist dem Notarzt und dem Rettungsteam auch gekommen…allerdings aufgrund der Einsatzhektik mit zeitlicher Verzögerung auf der Rückfahrt von der Klinik. Ein Verbleiben am Notfallort wäre aufgrund der Dringlichkeit des Transports in die Klinik allenfalls für den NEF-Fahrer infrage gekommen.
    Die im Rahmen der Rückfahrt erfolgte Alarmierung der Polizei führte zu einer gemeinsamer Sichtung des Einsatzorts mit allen beteiligten Rettungskräften.
    Nun zum Transportverlauf:
    Bei weiterhin stabilen Vitalparametern des Patienten ist alles für eine Bedarfs-Intubation vorbereitet worden, aber dem zügigen Transport in die neurochirurgische Klinik mit CCT-Diagnostik wird die Priorität gegeben. Der Verlauf des Transport verläuft in Intubationsbereitschaft unter engmaschiger Kontrolle der Vigilanz und der Vitalparameter. Die Vigilanzminderung bleibt zunächst weiterhin bestehen, der Patient reagiert auf lautere Ansprache und Außenreize gerichtet. Pupillenreaktion unverändert mittelweit bis eng, isocor, Reaktion auf Licht erhalten. BZ-Wert : 140 mg/dl. Die Fahrzeit konnte bei ortskundigem Fahrer und freier Autobahn auf spektakuläre 32 Minuten verkürzt werden. Kurz vor Erreichen der Klinik wird der Patient etwas wacher und reagiert auf Ansprache einsilbig und adäquat.
    Der Patient wird durch die diensthabende Neurochirurgin übernommen. Bei phasenweise vermehrter Unruhe des Patienten wird dieser für das Schädel-CT noch in der ZNA intubiert. Das Schädel-CT zeigt eine Subarachnoidalblutung frontotemporal, die bei zunehmend raumfordernder Ausdehnung am Folgtag neurochirurgisch ausgeräumt werden muss. Bei Nachblutung wird am 3.stationären Tag die erneute neurochirurgische Revision und Einlage einer Ventrikeldrainiage erforderlich. Die kontrollierte Batmung muss fortgesetzt werden mit Anlage eines Tracheostomas. Ein Weaning wird ab dem 10.stationären Tag eingeleitet. Nach Reduzierung der Sedierung und Beendigung der kontrollierten Beatmung wird der weiterhin von der Vigilanz her eingeschränkte Patient kurzzeitig in den Rollstuhl mobilisierbar.
    Er kann am 22. Tag aus der Klinik in eine neurochirurgische Rehabilitationsinstitution verlegt werden. Dort ist die Vigilanz des Patienten weiterhin schwankend. Es treten wiederholt agitierte Phasen auf. Ein Kontroll-Schädel-CT zeigt Residuen von frontalen Kontusionsblutungen. Die Kommunikation mit dem Patienten ist unverändert schwierig. Verwandte, die zur Klärung der Vorgeschichte beitragen könnten, gibt es nicht.
    Der Ereignishergang und der Ausgangszustand des Patienten vor dem Trauma bleiben unklar. Die gegenüberliegenden Verletzungslokalisationen periorbital frontal und occipital und die weiter entfernt liegende Brille wären durchaus mit einer Fremdeinwirkung vereinbar. Das Dran-Denken kam im aktuellen Fall – bei Konzentration des Rettungsteams auf die Erstversorgung und den raschen Kliniktransport – des Patienten verspätet und erst auf der Rückfahrt. Der zügige Transport des Patienten in eine neurochirurgische Klinik hatte Priorität. Ein Verbleib an der Einsatzstelle zur Klärung einer möglichen Gewalttat wäre nicht zu verantworten gewesen. Die wesentlichen Details konnten von der erstversorgenden RTW-Besatzung vor Ort noch präzise geschildert werden.
    Die Sichtung des Einsatzorts hatte leider keine weiteren Erkenntnisse ergeben, zumal durch den kurz vorher einsetzenden Platzregen eine Spurensicherung erheblich erschwert wurde.

    Dr.med. Gerrit Müntefering
    Arzt für Chirurgie / Unfallchirurgie
    Lessingstraße 26
    47445 Moers

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