Arbeitsgemeinschaft Notärzte in Nordrhein-Westfalen

Alarmierungsmeldung am Freitag-Nachmittag um 14:30 Uhr, Einsatz im Nachbarbezirk:

Patientin 85 Jahre, Reanimation

Anfahrt:

Das NEF muss sich durch die Rush-Hour in der Nachbarstadt kämpfen und trifft erst 18 Minuten nach Alarmierung an einem Einfamilienhaus in der Vorort-Siedlung der Nachbarstadt ein.

Der RTW des Nachbarbezirks war bereits 8 Minuten nach Alarmierung am Einsatzort eingetroffen. Angehörige der 85-jährigen Patientin hatten den Notruf ausgelöst, nachdem sie am Morgen des Einsatztages das letzte Mal Telefonkontakt zu ihrer Mutter gehabt hatten, bei erneuten Anrufversuchen am frühen Nachmittag dann aber keinen Kontakt mehr zu ihr herstellen konnten. Die Angehörigen sind daraufhin zur Wohnung ihrer Mutter gefahren und hatten sie reaktionslos im Wohnzimmer auf dem Bauch liegend vorgefunden.  Die Befundabfrage des daraufhin alarmierten Leitstellendisponenten war mit einer Reanimationssituation vereinbar. Daraufhin wurde vom Disponenten eine Telefon-Anleitung des zur Laienreanimation versucht, die Anleitung war von den Angehörigen bei psychischer Schockstarre und Aktionsunfähigkeit nicht umsetzbar.

Die eingetroffene RTW-Besatzung konnte nach Auf-den-Rücken-Drehen der unverändert auf dem Bauch liegenden Patientin mit 3 Helfern folgenden Befund erheben:

Nach vorsichtigem und leichtem Strecken des Kopfs und dem Esmarch-Handgriff kein A-Problem. Eigenatmung vorhanden.

Allerdings B-Problem mit Bradypnoe von 8 Atemzügen/ Minute. Der Atemimpuls war allerdings durch eine leichte Verstärkung des Esmarch-Handgriffs erkennbar zu verbessern.

Kein C-Problem: Puls bei 90 / Minute palpabel. RR: 220/125 mmHg. Sauerstoffsättigung bei 92 % (bei kalten blassen Fingern effektiv nur am Ohrläppchen ableitbar).

Das abgeleitete EKG zeigt folgenden Befund (Die 12-Kanal-Ableitung konnte im nachhinein leider nicht mehr aus dem EKG-Speicher reaktiviert werden):

Deutliches D-Problem: Die 85-jährige Patientin reagiert nicht auf Ansprache und nur angedeutet auf stärkere periphere Reize. Keine Beuge- oder Strecksynergismen.

Pupillen mittelweit mit geringer Reaktion auf Licht.

Bei der weiteren Untersuchung der nur mit Unterwäsche bekleideten Patientin wird eine flächige Weichteileinblutung an der re. Kniegelenksvorderseite und am rechten Beckenkamm sichtbar.

Die Körpertemperatur wird tympanal mit 33,6 °c gemessen.

Nach Eintreffen des Notarztes nochmaliges Hinzuziehen der Angehörigen. Sie berichten, dass ihre Mutter bisher eigentlich gut zurecht und mobil gewesen sei. Ein Brustkrebs sei im Jahr 2010 im Frühstadium operiert worden.

Sie können eine Medikationsliste ihrer Mutter vorlegen: Marcumar (ohne bekannten Medikationsanlass) und ohne beiliegendem Marcumarausweis. Amlopidin, Zopiclon und Melperon, L-Dopa bei restless-legs-Syndrom.

Auch eine Patientenverfügung kann vorgelegt werden:  Keine lebensverlängernden Maßnahmen, keine künstliche Beatmung.

Bei der nochmaligen Befundkontrolle bleibt die Bradypnoe weiterhin auffällig allerdings mit effektiver Stimulationsmöglichkeit des Atemimpulses durch leichte Verstärkung des Fingerdrucks am Kieferwinkel.

Die Thoraxauskultation ergibt eine leichtgradige Bronchospastik

Puls bei 93 / Minute palpabel. RR: 195/120 mmHg. Sauerstoffsättigung bei 93 %.

Es erfolgt die Anlage eines i.v.-Zugangs und eine titrierte Bronchospasmolyse.

Ein Wirbelsäulentrauma kann bei vorsichtiger Inspektion und Palpation doch eher ausgeschlossen werden.  Bei vorsichtiger Kopfrotation von 20 ° in beide Richtungen zeigt sich ein Mitwandern der Augen in beide Drehrichtungen.

Verdachtsdiagnose

Zielklinik

Dr.med. Gerrit Müntefering

Arzt für Chirurgie / Unfallchirurgie

Lessingstraße 26

47445 Moers

6 thoughts on “Fall des Monats Januar 2024

  1. Frohes Neues Jahr!
    Eigentlich keine Notwendigkeit für weitere Maßnahmen. Umlagern und ZNA mit Angio-CT bei eindeutig neurolog.Defizit. In Konflikte bzgl. Atemwegssicherung kommen wir auch nicht, da (bislang noch) bestehende Eigenatmung. Erloschener Vestibulo-occulärer Reflex als Hirndruckzeichen.
    Cushing Triade: Bradypnoe, Hypertonie, (Bradykardie)
    Verdachtsdiagnose: ICB

    Liebe Grüße
    Frank

  2. Moin zusammen und frohes neues Jahr,

    interessanter Fall, der einen danach bestimmt noch recherchieren lässt. Mein Gedanken während ich ihn gelesen habe:

    Meine Verdachtsdiagnose wäre: ICB mit Vigilanzminderung, Druckpuls im Rahmen einer unteren Herniation.

    Mitwandern der Augen interpretiere ich als einen vestibulookulären Reflex (,,Puppenkopfphänomen´´). Das würde den Verdacht auf eine Hirnblutung bestärken. Vielleicht sogar im Zusammenhang mit einem Sturzgeschen wegen unkontrollierter Marcumar-Einnahme und der Hämatome am Becken und am Knie.

    Handelt es sich hier nicht um ein potentielles C-Problem im Sinne eines hypertensiven Notfalls mit einer Bewusstseinsstörung? Ich finde einen so hohen Blutdruck nicht gerade unkritisch. Zudem empfinde ich eine Senkung des Blutdrucks hier indiziert z.B mit Urapidil. Ein angestrebter Blutdruck von <140 mmHg systolisch, jedoch nicht unter 110 mmHg.

    Mich würde interessieren, wie die Atemqualität und der Atemrhythmus hier erscheint. Für mich ist diese Patientin im Verlauf, wenn nicht sogar bei Eintreffen des NA/NÄ intubationspflichtig. Aufgrund der Vigilanz und des geschätzten GCS von 3-5 ( A 1 , V 1, M 1-3 ) sollte hier eine Intubation, auch unter dem Aspekt des Transportes, erfolgen. Der hohe systolische Blutdruck würde ebenfalls von einer Narkose gesenkt werden, was in diesem Setting sinnvoll wäre.

    Liebe Grüße

    Frederik-Ole Hartmann

    1. Blutdruck würde ich allenfalls moderat senken, um den cerebralen Perfusionsdruck bei vermutlich erhöhtem intrakraniellen Druck nicht zu sehr zu vermindern.

  3. Oh je, das sieht ja böse aus. Mir gehen verschiedene Dinge durch den Kopf: Verlust des Vestibulo-okulären Reflexes => Hirndruckzeichen/untere Einklemmung, sehr schlechte Prognose. Das Gesamtbild ist in sich nicht ganz stimmig, wieso haben wir noch (verlangsamte) Pupillenreflexe und geringe Reaktion auf Schmerzreize? Wie ist eigentlich der BZ? Der Kornealreflex?
    Gibt es außer einer intracraniellen Blutung, die sich hier sicher massiv aufdrängt, noch andere mögliche Ursachen? Intox? Was ist mit einem großen Media-Infarkt mit konsekutivem Hirnödem? Hat der Sturz zu einer Blutung geführt oder ist sie gestürzt wegen eines intrakraniellen Prozesses und hat „nur“ periphere Hämatome? (da ist es mal wieder: das Henne-Ei-Problem). Das EKG mit T-Negativierungen ist jedenfalls mit erhöhtem Hirndruck vereinbar.
    Feststellungen: 1. Kritischer Patient mit vermutlich infauster Prognose. 2. Prognose weiter verschlechtert durch Liegedauer von mehreren Stunden (vermutet wg. der deutlich reduzierten Körpertemperatur). 3. Drastische Therapielimitierung per Verfügung: Mindestens DNR/DNI.
    Da ich keine klare Diagnose stellen kann, möchte ich die Patientin zur Bildgebung mitnehmen, am besten in ein Zentrum mit neurochirurgischer Versorgung. Sie in dieser Situation „zum Sterben“ zu Hause zu lassen, möchte ich wirklich vermeiden. Für mich persönlich brauche ich die Absicherung, dass ich keine „reversible Ursache“ übersehen habe. Ich höre allerdings schon den/die Kollegin am anderen Ende der Leitung vor mir: „Wir haben alle Hände voll zu tun, was soll die Patientin hier bei uns, wenn wir sowieso nichts mehr machen dürfen? Fahrt doch zum nächsten Grundversorger.“
    Dennoch: Wenigstens eine weitere ärztliche Einschätzung (idealerweise mit Bildgebung) hätte ich gerne. Selbst wenn sich dann alle üblen Vermutungen bestätigen, kann man wenigstens mit Gewissheit die palliative Phase gestalten. Das halte ich auch für die Angehörigen für wichtig. Die Patientin selbst wird von dem ganzen Hantier sowieso vermutlich nichts mitbekommen.
    Den Transport würde ich unter 15° OK-Hochlagerung mit sorfältiger Kopflagerung zum ungestörten venösen Abfluss vornehmen. Wenn sich die Patientin auf dem Transport verschlechtert, lasse ich es im Sinne des DNR/DNI geschehen. Eine geringfügige unterstützende Bebeutelung wäre da für mich das höchste der Gefühle. NIV macht bei tiefem Koma keinen Sinn, auch wenn ich persönlich das nicht grundsätzlich im Konflikt mit DNI sehen würde. Eine Blutdrucksenkung würde ich eher nicht vornehmen, weil ich nicht sicher von einer Blutungsursache ausgehen kann.
    Ich hoffe, dass die Angehörigen mit dieser Strategie mitgehen können. Immerhin haben sie den Rettungsdienst primär gerufen…

    1. Steht in der Pat-Verfügung „zwei Fachärzte unabhängig voneinander den unwiderbringlichen …“ Ggf greift die Verfügung nicht.

  4. Weiterer Verlauf des Januarfalls 2024:

    Unsere kompetete(n) Diskussionsteilnehmerin / Diskussionsteilnehmer Steffi, Frank und Frederick-Ole haben die Problematik bereits voll erfasst und auch Kollege Bönisch bringt einen interessanten Aspekt mit ein.
    Ich zitiere mal auszugsweise :
    Verlust des Vestibulo-okulären Reflexes (,,Puppenkopfphänomen´´), mit Verdacht auf erhöhten Hirndruck, Hirnblutung Cushing Triade: Bradypnoe, Hypertonie, (Bradykardie) => Vielleicht im Zusammenhang mit einem Sturzgeschehen wegen unkontrollierter Marcumar-Einnahme / Marcumar-Überdosierung , oder aufgrund eines hypertensiven Notfalls, Vermutliche Liegedauer von mehreren Stunden, drastische Therapielimitierung per Verfügung: DNR/DNI, Gewünschte Ziele der Erstversorgung:: möglichst keine „reversible Ursachen“ übersehen „Wunsch nach einer weiteren ärztlichen Einschätzung (idealerweise mit Bildgebung)“. Dem von Kollegen Bönisch genannten Passus der Patientenverfügung mit anzustrebender Zustands- und Verlaufsbeurteilung durch 2 Fachärzte ( unabhängig voneinander) würde auf diese Weise Rechnung getragen.
    Anmerkung hierzu: Dieser Passus hat sich allerdings auch in der Patientenverfügung nicht gefunden.
    Unterschiedliche Meinung bestehen im Forum bezüglich der Atemwegssicherung insbesondere bei vorliegender Patientenverfügung und stimulierbarem Atemimpuls.

    Wissenswertes zum Puppenkopf-Phänomen:
    Zunächst zitiere ich die interessante Abhandlung zum bereits erkannten „Puppenkopf-Phänomen“ aus dem Wissensportal von wikipedia.org :
    Das Puppenkopf-Phänomen ist ein Begriff aus der Augenheilkunde und der klinischen Neurologie, der für eine physiologische, reflektorische Erscheinung verwendet wird. Er beschreibt die Auswirkungen eines Hirnstammreflexes, der bestimmte Augenbewegungen auslöst, die vollführt werden, wenn bei der Fixation eines Objekts der Kopf einer Person schnell in horizontaler oder vertikaler Richtung hin und her bewegt wird. Die adäquate Reflexantwort ist eine Bewegung der Augen entgegen der Drehrichtung des Kopfes. Sie dient der Blickstabilisierung, da durch diese Ausgleichsbewegungen die Augen auf das fixierte Objekt gerichtet bleiben, ähnlich dem starren Blick einer Puppe mit beweglich montierten Augen.

    Der dieser kompensatorischen Augenbewegung zugrunde liegende Reflex heißt vestibulookulärer Reflex (VOR). Der Reflexbogen ist:
    Innenohr (Bogengänge) → Hirnstamm (Blickzentrum) → okulomotorische Hirnnerven (III, IV, VI).

    Beim Gesunden ist dieser Automatismus unterdrückbar (zum Beispiel beim Verfolgen bewegter Objekte im Gesichtsfeld); in verschiedenen Stadien der Bewusstseinstrübung lassen sich unterschiedliche Ausprägungen diagnostizieren: Beim soporösen Patienten fällt die Reflexprüfung meist positiv, jedoch mit einer Verzögerung aus, in tieferen Komastadien dann oft negativ als Zeichen von Mittel- und/oder Stammhirnläsionen.

    Zurück zum Fall :
    Bei vorliegendem Puppenkopf-Phänomen und 2 von 3 positiven Kriterien der Cushing-Trias , höchstwahrscheinlich langer Liegedauer,wird trotz vorliegender Patientenverfügung mit Einschränkung des Handlungsmandats bei diesem höchstwahrscheinlich infausten Fall auch aufgrund der deutlich agierten Angehörigen Kontakt mit dem nahegelegenen Krankenhaus mit neurologischer Klinik aufgenommen und der Fall inklusive seiner erkennbar schlechten Prognose geschildert. Der diensthabende Kollege kann den Wunsch nach einer fallklärenden Bildgebung trotz Palliativ-Situation erfreulicherweise nachvollziehen.

    Mittlerweile ist ein iv-Zugang angelegt worden und Wärme-Maßnahmen eingeleitet worden. Blutdrucksenkende Maßnahmen werden nicht unternommen.
    Der Transport in die Klinik erfolgt unter mehrfacher Atemstimulation und gleichbleibender hypertonen Blutdruckwerten bei stabiler Sättigung ohne Zustandsveränderung.

    In der Klinik kann der Neurologe das Puppenkopfphänomen ebenfalls nachvollziehen. Die bildgebende Diagnostik bestätigt die relevant raumfordernde Hirnstammblutung und die Labordiagnostik ergibt einen deutlich erhöhten INR-Wert.

    Die Patientin verstirbt im Beisein der Angehörigen noch in der gleichen Nacht.

    Dr.med. Gerrit Müntefering
    Arzt für Chirurgie / Unfallchirurgie
    Lessingstraße 26
    47445 Moers

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