Fall des Monats Juli 2022

Alarmierungsmeldung am Freitag um 22:00 Uhr:

35-jähriger Mann, Suizidversuch, Tablettenintoxikation

5 Minuten nach der Alarmierungsmeldung Eintreffen des NEF am Einsatzort.

Anamnestische Angaben der Ehefrau (Anruferin):

Die Ehefrau des Patienten führt das Rettungsteam in die Wohnung. Sie berichtet, dass Ihr Mann bereits vor 10 Jahren wegen Depressionen bei Suizidtendenz in psychiatrischer Behandlung gewesen sei. Durch zunächst stationäre und dann ambulante fachärztliche und fachtherapeutische Behandlung und damals höherdosierte neuroleptische Medikation konnte dann ein stabiler Zustand erreicht werden mit Distanzierung ihres Mannes von Suizidgedanken.

Die neuroleptische Medikation konnte dann ausgeschlichen werden und war in den letzten 8 Jahren nicht mehr erforderlich gewesen.

Jetzt bestehe seit einem Jahr eine Ehekrise mit zuletzt regelmäßig auftretenden Auseinandersetzungen. Am heutigen Tag habe ihr Mann ihr nun mitgeteilt, dass er keinen Sinn mehr im Leben sähe und sich umbringen werde. Die hierzu notwendigen Tabletten habe er in ausreichender Menge gehortet und auch schon einige Tabletten geschluckt.

Patienten-Erstkontakt und Entwicklung der Situation vor Ort:

Der 35-jähriger Patient sitzt auf dem Küchenstuhl. Er ist wach und orientiert.

Nun Anfrage des Notarztes an den Patienten, welche Tabletten er denn eingenommen hätte und warum er sich umbringen wolle.

Der 35-jährige Mann bestreitet daraufhin jegliche Suizidabsicht und auch eine Tabletteneinnahme vehement. Er sei seit Jahren von seiner Psyche her völlig stabil. Seine Frau wolle ihn offensichtlich für unzurechnungsfähig erklären lassen, damit es bei der von ihrer beabsichtigten Trennung keine größeren Schwierigkeiten gebe.

Die Ehefrau erscheint in diesem Augenblick mit einem leeren Tablettenblister von Clobazam (Frisium), 3 leeren Tablettenblistern Zolpidem (Stilnox), 2 leeren Tablettenblistern Verapamil (Isoptin) und 2 leeren Tablettenblistern Digoxin. Diese habe sie gerade in der Medikamentenbox des zweiten Schlafzimmers gefunden.

Der 35-jährige Mann bestreitet die Tabletteneinnahme sofort energisch. Diese leeren Tablettenblister seien schon seit geraumer Zeit dort gelagert und gehörten zur Medikation der im gleichen Haus lebenden Schwiegermutter. Die Schwiegermutter befindet sich derzeit in einer stationären Rehabilitationsmaßnahme in der Nachbarstadt.

Die Ehefrau widerspricht dieser Darstellung:  Leere Tablettenblister seien ihr am heutigen Morgen bei der Reinigung des Zimmers noch nicht aufgefallen.

Erstuntersuchung:

Der Patient lässt die notärztliche Erstuntersuchung ohne Widerstand zu:

Blutdruck 130 / 80 mmHg, Puls 110 / Min. mit rhythmischer Pulsfrequenz Atemfrequenz 12 / Min. Sauerstoffsättigung 94 %. Pupillen mittelweit isocor, Reaktion auf Licht und Konvergenz prompt. Hauttemperatur normal. Peripherer Reflexstatus unauffällig. Keine Hyperreflexie.  EKG-Ableitung unauffällig. Unauffälliges Hautkolorit. Kein Schwitzen.

 

Weiteres Procedere ?

 

 

Dr. Gerrit Müntefering
Arzt für Chirurgie / Unfallchirugie / Notfallmedizin
Lessingstr. 26
47445 Moers

 

3 thoughts on “Fall des Monats Juli 2022

  1. Ein unangenehmer Fall, bei dem Aussage gegen Aussage steht. Ich neige dazu, dem Mann zu glauben. Letztlich kann man von uns in dieser Hinsicht aber auch keine Detektivarbeit verlangen. Der „Patient“ verneint Suizidabsicht, verhält sich ruhig und kooperativ. Keine Auffälligkeiten in der körperlichen Untersuchung bzw. bei den Messergebnissen. Damit besteht für mich weder Eigen- noch Fremdgefährdung.
    => Einsatzabbruch mit dem Hinweis, dass bei ggf. eintretender Verschlechterung selbstverständlich erneut gerufen werden kann.

    Bevor wir endgültig fahren, möchte ich mit dem „Patienten“ aber einmal unter vier Augen (jedenfalls ohne die Frau) sprechen und mir seine Aussage nochmals bestätigen lassen. Anschließend noch die Frage, ob es ein Problem gibt, bei er Hilfe braucht. Ggf. nach Möglichkeit diese Hilfe vermitteln.
    Dokumentation der wiederholten Distanzierung von Suizidgedanken.

    Anmerkung:
    Was mir bei der Fallbeschreibung negativ aufgefallen ist, ist die Gesprächsführung: Ich finde es ungünstig, den Patienten mit einer Behauptung zu konfrontieren. Ich mache es meistens so, dass ich frage, ob ich mich zu ihm/ihr setzen kann und formuliere dann offener: „Wissen Sie, warum wir gerufen wurden? Was meinen Sie denn dazu?“ Wenn das nicht zielführend ist, kann man ja noch konkreter werden: „Ihr Angehöriger scheint sich Sorgen, zu machen, weil er/sie befürchtet, Sie hätten dieses oder jenes getan bzw. vor, es zu tun. Sind diese Sorgen berechtigt?“ Damit behalte ich eine neutrale und nicht wertende Position bei und erhoffe mir dadurch eine bessere Gesprächsbasis.

  2. Eigentlich eindeutig: Die ärztliche Untersuchung ergibt einen einwilligungsfähigen, orientiert, stabilen und psychisch nicht auffälligen Patienten. Keine Indikation für PSYCHKG etc.
    Paartherapie empfehlen!

  3. Weiterer Verlauf des Juli-Falls 2022 :

    Steffi’s und Frank’s Ansichten zum Fall treffen ins Schwarze und auch Steffi’s Kritik am etwas voreiligen Notarzt. Der Notarzt ist vor dem ersten Patientenkontakt von dessen Ehefrau bereits auf ein problematisches Gleis gestellt worden und auf diesem leider zunächst weitergefahren.

    Zum Fallverlauf :

    Hinweise auf eine Intoxikation mit Benzodiazepinen, Calcium-Antagonisten oder Digitalis ergeben sich im aktuellen Fall nicht.
    Die weiteren Kontrollen der Vitalparameter ergeben Normalwerte bei rhythmischer Herzfrequenz. Die EKG-Ableitung zeigt ebenfalls einen unauffälligen Befund.
    Der Patient ist orientiert ohne Hinweise auf psychische Alteration. Der von der Ehefrau geäußerte Verdacht auf einen Suizidversuch ihres Manns lässt sich nicht aufrechterhalten.
    Es erfolgt ein kurzes 4-Augen-Gespräch mit dem Patienten, wobei psychische Alterationen nicht erkennbar sind. Anschließend Abbruch des Einsatzes mit Hinweis auf die Möglichkeit einer erneuten NA-Alarmierung bei Zustandsänderung des Patienten.

    Dr. Gerrit Müntefering
    Arzt für Chirurgie / Unfallchirurgie / Notfallmedizin
    Lessingstr. 26
    47445 Moers

Schreibe einen Kommentar zu Frank Eifinger Antworten abbrechen

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert