Fall des Monats September 2021

Alarmierungsmeldung um 19:30 Uhr:

94-jähriger Patient auf der Kurzzeitpflegestation des Altenheims mit Atemnot / abnormaler Atmung

 

Situation vor Ort:/Vorgeschichte:

Der RTW erreicht das Seniorenzentrum 2 Minuten vor dem NEF.

Das Rettungsteam wird von der diensthabenden Pflegekraft der Kurzzeitpflegeeinrichtung zum Patienten geführt.

Nach Angaben der Altenpflegerin ist der 94-jähriger Patient von der Inneren Abteilung des örtlichen Krankenhauses in die Kurzzeitpflegeeinrichtung verlegt worden, Laut Krankenhaus-Überleitungsbogen sei der Patient aufgrund einer kardialen Dekompensation mit Pleuraergussbildung beidseits stationär behandelt worden. Die Pleuraergüsse seien im stationären Rahmen drainiert worden.

Es sei eine fortgeschrittene Aortenklappenstenose festgestellt worden und eine Niereninsuffizienz 3. Grades dokumentiert worden. Im stationären Behandlungsrahmen sei die diuretische Vormedikation mit einem Schleifendiuretikum von der Dosierung erhöht worden. Die vorbestehende Betablocker-Medikation habe man beibehalten. 6 Wochen zuvor habe sich der 94-jährige Mann bei einem Sturzereignis eine zweitgradig offene Sprunggelenksluxationsfraktur rechts zugezogen, die – aufgrund seiner eingeschränkten Operationsfähigkeit – grob achsengerecht durch Anlage eines Fixateur externe worden war. Den Fixateur externe habe man vor ca. 1 Woche (im Rahmen seines stationären Aufenthaltes auf der inneren Abteilung) entfernt. Anschließend sei ein Walker-Stiefel angelegt worden.

 

Aktuelle Anamnese:

Nach Angaben des Pflegepersonals der Einrichtung sei der 94-jährige Mann bereits seit 2 Tagen erkennbar antriebsschwächer gewesen und sei nur mühsam mobilisierbar gewesen. Bei dem Patienten sei eine Pflegebedürftigkeit gemäß Pflegegrad 3 dokumentiert.

Der Hausarzt habe am Vortag im Rahmen einer Visite der Kurzzeitpflegeeinrichtung die Dosis des Schleifendiuretikums einmalig verdoppelt aufgrund der bekannten Vorgeschichte mit kardialer Dekompensation und Pleuraergussbildung .

Die kognitive Leistungsfähigkeit des 94-jährigen Manns sei trotz seines hohen Alters noch zufriedenstellend.

Nun hätte sich der Allgemeinzustand des Gastbewohner der Kurzzeitpflegeeinrichtung seit dem Nachmittag noch weiter verschlechtert zurecht mit leichter Dyspnoe.

Die Frage des Notarztes nach dem Vorliegen einer Patientenverfügung wird von der anwesenden Altenpflegerin verneint. Auf dem Überleitungsbogen der Kurzzeitpflegeeinrichtung ist jedoch dann anderslautend dokumentiert, dass eine Patientenverfügung vorhanden sei.

Der Altenheimbewohner habe 2 Töchter, die in der Nachbarstadt leben würden.

 

Erster Eindruck:

Der 94-jährige Mann wird wach und ansprechbar in seinem Pflegebett liegend angetroffen. Keine zentrale oder periphere Zyanose. Es besteht eine leichtgradige Dyspnoe, Keine Bronchospastik, kein Stridor, annähernd  seitengleiche Atemexkursionen.  . Der Patient ist in der Lage, mit kurzen Sätzen adäquat zu antworten.

Blutdruck 170/60 mmHg Herzfrequenz allerdings palpatorisch und pulsoximetrisch zwischen 35 – 38 Schlägen/min

Sauerstoffsättigung 92%. Blutzucker-Stix 88 mg/dl

Körpertemperatur gemessen mit dem Ohrthermometer 36,2°C.

 

Bei der Ableitung des 12 Kanal EKGs wird folgender Befund erhoben:

Vom Notarzt wird nun versucht, dem Patienten, die Besonderheiten und Gefahren seines EKG-Befunds zu erklären. Anschließend wird er dann auch über medikamentöse und apparative Therapiemöglichkeiten seines Befundes unterrichtet.

Eine Krankenhausbehandlung und Überwachung sei nach Ansicht des Notarztes unbedingt erforderlich.

 

Der 94-jährige Mann lehnt die als Therapieoption mitgeteilten apparativen Maßnahmen ab.

Er möchte lieber in der Kurzzeitpflegeeinrichtung verbleiben.

Man könne ihm ja eine Spritze zur Behandlung seiner leichten Luftnot geben.

 

Eine gesetzliche Betreuung ist für den Patienten nicht eingerichtet.

Der Inhalt der auf dem Überleitungsbogen genannten Patientenverfügung ist unklar.

 

 

Arbeitsdiagnose?

 

Weiteres Vorgehen?

 

Dr. Gerrit Müntefering
Arzt für Chirurgie / Unfallchirurgie / Notfallmedizin
Lessingstr. 26
47445 Moers

3 thoughts on “Fall des Monats September 2021

  1. Im Ruhe-EKG sieht man einen AV-Block III° sowie T-Negativierungen über II,III,aVF V4-V6, sodass von einer ischämiebedingten AV-Block III° auszugehen ist. Daher prinzipiell Indikation zur Aufnahmen zur Ischämiediagnostik+SM-Implantation.

    Der Patient wird als kognitiv zufriedenstellend beschrieben. Nach Vergewisserung seiner Einsichtsfähigkeit ist daher sein Wille prinzipiell zu tolerieren. Ich würde allerdings vorher mit den Töchtern Kontakt aufnehmen iin der Hoffnung dass sie Ihren Vater umstimmen. Ansonsten ggf. Besprechung von einer palliatven Aufnahme bei zu erwartender weiteren AZ Verschlechterung.
    Wenn dies weiterhin abgelehnt wird, ausführliche Aufklärung des Patienten unter Zeugen und Dokumentation.
    Ansonsten Gabe von ASS/Heparin bei V.a. Ischämie sowie Gabe von Morphin subcutan.
    Ggf. vorsichtige Senkung des Blutdrucks(Cave bei hochgradiger Aortenklappenstenose, dann ggf. durch orale RR Medikation) Rückmeldung an Hausarzt und KV Dienst

  2. Aus rein medizinischer Sicht fällt der AV-Block III ins Auge, ob die T-Negativierungen neu sind, wäre interessant zu wissen. Eine Möglichkeit zur Symptombesserung im Rahmen der ambulanten Versorgung durch den Rettungsdienst sehe ich in diesem Fall eher nicht. Morphin könnte die Bradykardie verschlimmern, außerdem braucht es schon ein sehr verlässliches Umfeld, um einen erstmals opiatisierten Patienten am E-Ort zu belassen.

    Das Hauptproblem schient mir hier aber weniger ein medizinisches zu sein.
    Für mich ist es entscheidend, ob der Patient einsichtsfähig ist, und zwar unabhängig von einer wie auch immer gearteten Betreuungsverfügung. Wenn dem Patienten die Tragweite seiner Transportverweigerung klar zu machen ist („Sie könnten in kurzer Zeit versterben ohne weitere Diagnostik und Therapie“) und er dennoch eine stationäre Behandlung ablehnt, muss das akzeptiert werden. Wie im ersten Posting erwähnt, finde auch ich hier die unmissverständliche Dokumentation unter Einbeziehung von Zeugen eminent wichtig.
    Das Gespräch mit den Töchtern würde ich trotzdem suchen, da nach Möglichkeit eine Entscheidung im Konsens herbeizuführen ist, um spätere Konflikte gar nicht erst aufkommen zu lassen.

    Ein weiteres Problem, das mir in ähnlichen Situationen schon öfter begenet ist, ist die Forderung des Pflegepersonals nach Verlegung, da man mit der Situation überfordert sei. Hier hilft oft das Aufzeigen von Handlungsoptionen und die enge Einbindung des Hausarztes.

    Sollte der Patient sich im weiteren Gespräch als nicht ausreichend einsichtsfähig erweisen, sollten natürlich ebenfalls die Töchter hinzugezogen werden, um eine Einschätzung der Gesamtsituation und eventuell schon im Vorfeld abgesprochener Therapiebeschränkungen sowie des tatsächlichen Betreuungsstatus zu gewinnen.
    Wenn dann die Entscheidung zum Transport gefällt werden sollte, klappt das mit Unterstützung der Angehörigen erfahrungsgemäß meist ohne gravierenden Widerstand durch den Patienten.
    Wenn entschieden wird, den Patienten angesichts der Gesamtumstände nicht stationär aufzunehmen, sollte unbedingt der Hausarzt informiert und nach Möglichkeit seine Unterstützung sichergestellt werden.

  3. Weiterer Verlauf des Septemberfalls 2021

    Wie Christian und Steffi bereits diagnostiziert haben, liegt im aktuellen Fall ein (möglicherweise ischämiebedingter) AV-Block III° vor. Daraufhin erfolgte – wie Christian und Steffi auch bereits vorgeschlagen hatten – die telefonische Kontaktaufnahme mit den Angehörigen, die dann auch erfreulicherweise zeitnah in die Kurzzeitpflegeinrichtung kommen konnten.
    Im Beisein der Tochter wurde dann vom Notarzt nochmals die aktuelle Situation und auch das vitale Gefährdungspotential dargestellt. Die Tochter konnte den Vater dann zumindest überreden – ohne ärztliche Akutmaßnahmen vor Ort – zur Überwachung für eine Nacht ins Krankenhaus zu gehen.
    Während des Transports zeigte die Überwachung unverändert den AV-Block III Grades mit Herzfrequenz von 35 – 40/Minute und Blutdruckwerten um 150/60 mmHg.
    Mit diesen Werten erfolgte dann auch die Übergabe des Patienten in der ZNA der Klinik mit kardiologischer Krankenhausabteilung.

    2 Tage später erkundigt sich der erstbehandelnde Notarzt in der Klinik noch einmal zum weiteren Verlauf, Der behandelnde Krankenhaus-Kardiologe teilt mit, dass der Patient auch weiterhin invasive Massnahmen abgelehnt habe. Nach sukzessiver Reduzierung der Betablocker-Dosierung sei jedoch dann eine leichte Verbesserung der kardialen Situation mit Herzfrequenz um 50- 55 / Min .eingetreten . Der 94-jährige Patient wurde dann zeitnah „auf eigenen Wunsch“ wieder in die Kurzzeitpflegeeinrichtung zurückverlegt.

    Dr. Gerrit Müntefering
    Arzt für Chirurgie / Unfallchirurgie / Notfallmedizin
    Lessingstr. 26
    47445 Moers

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