Fall des Monats September 2020

Alarmierungsmeldung am Montag um 20:30 Uhr:

Nachforderung von NEF und RTW durch eine vor Ort befindliche KTW Besatzung

zur Versorgung eines 86-jährigen Patienten in schlechtem Allgemeinzustand.

Situation vor Ort/Anamnese:

Der Notarzt trifft nach 9-minütiger Fahrzeit 2 Minuten nach dem RTW am Einsatzort ein (Einfamilienhaus in einer Vorstadtsiedlung).

Der eingetroffene RTW sollte eigentlich zeitnah nach einem längerem Verlegungstransport außer Dienst genommen werden bei Störung der Bordelektronik (Ausfall eines Großteils des elektrischen Bordequipments im Kofferaufbau einschließlich der Stromzufuhr des Kühlschranks seit über 1,5 Stunden). Der jetzige Einsatz musste aber dann diesem RTW zugewiesen als Notlösung bei kompletter Auslastung aller Fahrzeuge im Kreis und Nachbarkreis.

Die vor Ort befindliche KTW-Besatzung ist von der Ehefrau eines bettlägerigen dementen 86-jährigen Patienten angefordert worden bei zunehmender Problemen nach morgendlichem Entfernen eines Blasenkatheters.

Die Ehefrau des Patienten teilt mit, dass im Rahmen eines morgendlichen Pflegediensteinsatzes ein bereits seit einigen Wochen liegender transurethraler Blasenkatheter entfernt worden sei bei leichtem Blutabgang im Bereich der äußeren Harnröhrenmündung und aufgrund einer Undichtigkeit der Katheterableitung (mit wiederholtem transurethralen Harnabgang). Verhaltensempfehlungen nach erfolgter Katheterentfernung seien der Ehefrau durch den Pflegedienstmitarbeiter nicht gegeben worden. In der Folgezeit habe sie die vorgelegten Inkontinenzeinlagen 4 mal wechseln müssen bei teils blutigem und teils schleimig-trüben Harnabgang in die Vorlage. Gegen Abend habe sich der Zustand ihres Mannes dann stark verschlechtert mit Fieberentwicklung von 40° und auch zunehmender Somnolenz des 86-Jährigen.

Einige Informationen zum Patienten erhält das Rettungsteam nach Vorlage des Deckblatts eines internistischen Krankenhaus-Entlassungsberichtes, der 4 Wochen zuvor erstellt worden war. Der Patient war aufgrund eines Harnwegsinfektes und einer relevanten Exsikkose stationär behandelt worden. Weitere Diagnose laut Entlassungsbericht:

Arterielle Hypertonie, Aortenklappenstenose, Zustand nach Alkoholabusus bis vor 3 Jahren und Zustand nach Nikotinabusus.

Aufgrund der am Abend eingetretenen Zustandsverschlechterung habe die Ehefrau des Patienten eine Vorstellung ihres Mannes in der urologischen Ambulanz des naheliegenden Krankenhauses für notwendig gehalten und einen KTW-Transport angefordert.

Eine Patientenverfügung liegt vor, nach der die Einleitung eines künstlichen Komas, eine Wiederbelebung und weitergehende lebenserhaltende Maßnahmen bei schlechter Prognose nicht gewünscht werden.

Erstbefund:

86-jähriger Patient in reduziertem Allgemeinzustand.

Es besteht eine Demenz-bedingte Kommunikationsstörung, aber auch eine Eintrübung mit eingeschränkter Reaktion des Patienten auf Außenreize. Es ist eine Tachypnoe feststellbar mit Atemfrequenzen um 16/min. Sauerstoffsättigung 92%,

Blutdruck 75/45 mmHg, Körpertemperatur gemessen mit dem Ohrthermometer 39,0°C. Blutzuckerstix  270 mg/dl  Die einlegte Inkontinenzvorlage wird kontrolliert. Die angabegemäß kurz vorher gewechselte Vorlage ist trocken. Keine Blutspuren sichtbar. Kein auffälliger Geruch.

 

Das abgeleitete EKG ergibt den nachfolgenden Befund:

 

Bei der Blutdruckkontrolle wird 5 Minuten später ein Blutdruck von 65 /40 mmHG gemessen.

Erstmaßnahmen:

Anlage von 2 intravenösen Zugängen im Bereich beider Handrücken 20 G. Infusion von 2 x 500 ml kristalloider Lösung. Das im RTW mitgeführte Perfusorsystem ist bei eingetretener Fehlermeldung der Stromversorgung (Entladung älterer Akkus nach Stromausfall ?) nicht einsatzfähig.

 

 

Arbeitsdiagnose?

Weitere präklinische Maßnahmen?

Bahnung der klinischen Weiterversorgung?

In welche Abteilung?

 

 

Dr.med. Gerrit Müntefering

Arzt für Chirurgie / Unfallchirurgie

Lessingstraße 26

47445  Moers

3 thoughts on “Fall des Monats September 2020

  1. Ich wäre skeptisch ihn als einen definitiv präfinalen Patienten zu sehen. Der V.a. Harnwegsinfektion etc. ist ein verschlepptes wenn auch akutes Problem.
    Schlechter Allgemeinzustand mit Insuffiziens

    Zum Zustand der Fahrzeuge verfügt der KTW oder das NEF über einen Kühlschrank?
    Verfügt das NEF über funktionierende Spritzenpumpen (Teil der Norm /Standard? )

    Zum Review: Wieso wurde Initial ein KTW eingeteilt und dies nur als Krankentransport am Vortag klassifiziert?
    Eine Indikation Notfallrettung/Notfalltransport ggf. Sogar mit Notarztindikation schien schon am Vortag zu bestehen.

    Transportziel Intensiv /Internistisch + FA UROLOGIE eine weitere palliativ Therapie sollte bedacht werden. Eine Rasche Deskalation der Therapie bei fehlender Kontrolle über den Infektionsherd wäre in anbetracht Einwilligung angemessen.

    Meiner nichtärztlichen Meinung nach.

  2. Also: Zusammengefasst handelt es sich um einen bettlägerigen, dementen und deutlich vorerkrankten Patienten mit septischem Schock (vermutlich bei Harnwegsinfekt). Erfreulicherweise liegt eine Patientenverfügung vor.
    Ich würde mit der Ehefrau die akute Lebensgefahr kommunizieren und dass es nicht unwahrscheinlich ist, dass ihr Mann daran im Verlauf verstirbt.
    Nochmals evaluieren und kommunizieren, dass keine künstliche Beatmung und Reanimation gewünscht ist und man dies (also ich!) auch nicht für sinnvoll erachtet. Fragen ob es weitere Angehörige gibt und fragen ob die das ähnlich sehen. Die weiteren Angehörigen meist Kinder informieren lassen.
    Ich würde der Ehefrau vorschlagen den Patienten mitzunehmen und auch einer Intensivtherapie zuführen um zumindest eine vorübergehende moderaten Katecholamin- und Volumentherapie+ Antibiose durchzuführen (sofern jetzt nicht sofort ,,nein, nein“ geschrien wird). Zuvor natürlich Fokussuche. Bei ausbleibendem Erfolgt dann entsprechend der Patientenverfügung verfahren und in ,,ruhigem Setting“ dies mit den Angehörigen kommunizieren.

    Akut würde ich den Blutdruck, da Volumen ohne Erfolg, mit Noradrenalin anheben. Sofern auf dem NEF tatsächlich kein Perfusor vorgehalten wird, was ich mir fast nicht vorstellen kann, würde ich mir eine 1:100 Mischung anfertigen. Also 1 mg Noradrenalin auf 100 ml NaCl. Dies kann auch vorsichtig aus der Hand titriert werden. 0,5-1ml zur laufenden Infusion, zunächst bis Radialispuls tastbar. Dann sich herantasten bis der Blutdruck im verträglichen Bereich ist. Muss halt ständig nachgespritzt werden- nicht schön, aber was soll man sonst machen!
    Wenn man diese 1:100 Mischung über einen Perfusor geben würde, würde der Patient bestimmt 20 ml/h zur Aufrechterhaltung vertragen+Miniboli um erst einmal den Druck aus dem kritischen Bereich zu bekommen.
    Wenn man 1 mg in eine Infusionsflasche gäbe, hätte man eine 1:500 Mischung. Man bräuchte also 5x soviel bzw. 100 ml/h davon. Wie schnell das dann tropfen müsste, kann sich jeder zu Hause auf der Couch ausrechnen :-). Für den Akutfall wäre mir das glaube zu umständlich.

    Im aufnehmenden KH muss man natürlich noch ein ITS Bett organisieren und am Telefon o.g. Ausführungen bereits kommunizieren. Die Angehörigen sollten sich dann zeitnah beim ärztlichen Personal zu weiteren Gesprächen einfinden.

    Ob ich nun mit dem ,,schrottreifen RTW“ oder im KTW+ NEF EKG/Equipment ins Krankenhaus fahre, wäre mir egal, ich müsste ja sowieso begleiten. Sauerstoff würde ich noch bisschen geben.

  3. Weiterer Verlauf des Septemberfalls 2020:

    Vielen Dank für die interessanten Diskussionsbeiträge !

    Mit der Ehefrau wurde die vital bedrohliche Lage des septischen Schocks besprochen und ein stationärer Therapieversuch zur Infekteindämmung und Schocktherapie in gewünscht moderatem Rahmen vorgeschlagen. Die Ehefrau war einverstanden.

    Der fehlende Zugriff auf einen Perfusor sollte nicht vorkommen und war im aktuellen Fall wohl dadurch bedingt, dass das eigene NEF-Fahrzeug bei Fahrwerksdefekt am Morgen durch das Reserve-NEF des Kreises ausgetauscht werden musste mit dann leider nur unvollständigem Equipment.

    Deshalb wurde bei der präklinischen Medikation entsprechend den Empfehlungen von Oliver vorgegangen. Es wurde eine 1:100 Mischung Noradrenalin erstellt und diese Verdünnung in 0,5 ml –Portionen titriert intravenös appliziert, bis der Blutdruck dann bei knapp unter 100 mmHG systolisch messbar war. Mit nochmaligem Nachinjizieren von Noradrenalin und der o.g. engagierten Infusionstherapie konnte man bei gleichbleibendem Blutdruck eine Klinik mit urologischer Abteilung erreichen. Der Patient schien bei Erreichen der ZNA sogar etwas wacher sein.

    Hier wurde dann die Harnableitung durch die Urologen zügig wiederhergestellt und – nach Sichtung der Patientenverfügung – die Therapie des septischen Schockgeschehens mit nun möglichem Einsatz „mehrerer“ Perfusoren fortgesetzt. Die stationäre Intensivtherapie zeigte unter Kombinationsantibiose bereits am Abend des Folgetages einen überraschend positiven Erfolg, so dass der Patient bereits am Morgen des 4.Tages des stationären Aufenthalts in stabilem und recht guten Allgemeinzustand auf die Normalstation verlegt werden konnte. Der Patient konnte nach 10 Tagen wieder nach Hause entlassen werden.
    Die Ehefrau hatte in der Zwischenzeit (verständlicherweise) den ambulanten Pflegedienst gewechselt.

    Dr.med. Gerrit Müntefering
    Arzt für Chirurgie / Unfallchirurgie
    Lessingstraße 26
    47445 Moers

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