Alarmierung des NEF um 17:45 Uhr, Einsatzstichwort „Atemnot“
Der Einsatzort liegt am Rande des Einsatzgebietes an der Grenze zu einem benachbarten Kreis. Bereits auf der Anfahrt über Funk der Hinweis, dass sich eine Reanimationssituation entwickelt habe und man telefonisch zur Reanimation anleite.
Das NEF trifft nach 12 Minuten Anfahrt an einer Doppelhaushälfte ein, offenbar gut situierte Wohngegend, wir werden in ein im Obergeschoss gelegenes Bad geführt.
Dort liegt ein Patient auf dem Badezimmerboden, fremdanamnestisch sei er mit Atemnot auf dem WC zusammengesackt und von der Lebensgefährtin auf den Boden gelegt worden.
Auffallend ist die tiefgelbe Farbe der Haut und der Skleren, es besteht eine ausgeprägte Cholestase. Weiter zeigt sich ein stark aufgetriebenes Abdomen im Sinne eines ausgeprägten Aszites, zusätzlich starke Ödeme an den Beinen. Der Patient weist eine Schnappatmung auf, etwa 5 Atemzüge pro Minute, das über die Patches abgeleitete EKG zeigt einen arrhythmischen, bradykarden Sinusrhythmus mit ventrikulären Extrasystolen, Frequenz etwa 30/Minute. Der GCS beträgt 7, der Puls ist peripher nicht tastbar.
Die drei Minuten zuvor eingetroffene RTW-Besatzung hat nicht mit einer Reanimation begonnen, da sie von der Lebenspartnerin auf ein fortgeschrittenes Tumorleiden „im Endstadium“ hingewiesen worden seien, auch habe sie die telefonische Anleitung abgelehnt.
Der Notarzt lässt zunächst nur Sauerstoff über eine Nasenbrille verabreichen und stimmt zu, dass – obwohl klar-definierte Kriterien bestehen – zunächst keine Herzdruckmassage und Beatmung durchgeführt wird.
Da ganz offenbar ein praefinaler Patient angetroffen wird, versucht der Notarzt nun die weitere Anamnese zu erheben, insbesondere ob in einer Patientenverfügung festgelegt worden sei, was bei Verschlechterung gewünscht sei. Es handelt sich um einen 50jährigen Patienten, der an einem „Enddarmkrebs“, welcher nicht operiert worden sei, da bereits Leber- und Lungenmetastasen gefunden wurden, sondern chemotherapeutisch behandelt werde. Am gestrigen Tag habe er noch ambulant eine Chemotherapie erhalten, die er aber „nicht so gut vertragen“ habe, das Injektionssystem befindet sich noch am Körper, ist über eine Portnadel mit dem implantierten Port verbunden.
Der Notarzt versucht der Angehörigen die Situation realitätsnah darzustellen und weitere Informationen einzuholen. Da es sich ganz offensichtlich um eine Palliativsituation handelt, wird die Frage nach Anbindung in einer entsprechenden Versorgung / einer speziellen häuslichen Pflege gestellt, was verneint wird, das habe er nicht haben wollen. Medikamentös nehme er Spironolacton („aber nur, wenn er meint, es ist nötig“) und Cortison 5 mg („auch nur wie er meint“) ein. Ansonsten sei er ja gesund und brauche keine Medikamente.
Die einzigen Patientenunterlagen, die vorliegen, finden sich in Form eines Lieferscheins der Apotheke über Chemotherapeutika, kein Arztbrief, kein Krankenhausbericht. Um weitere Informationen zu erhalten, gelingt es, telefonisch Kontakt zum behandelnden niedergelassenen Onkologen herzustellen. Dieser bestätigt die hochpalliative Situation, andererseits aber den ausgeprägten Therapiewillen des Patienten, der für sich immer die doppelte Dosis der Chemotherapeutika eingefordert habe. Jegliches Angebot über eine palliative Anbindung sei konsequent abgelehnt, auch entsprechende Gesprächsangebote negiert worden.
Der Onkologe schätzt den Patientenwillen so ein, dass der Patient auf jeden Fall in ein Krankenhaus transportiert werden wolle. Auch der Hinweis des Notarztes, dass er aufgrund der aktuellen Vitalparameter vermutlich gar nicht mehr transportabel sei, wird vom Onkologen kritisch bewertet. Auch die sichtlich überforderte Lebenspartnerin, der der kritische Zustand bislang offenbar in dieser Form nicht bewusst war, spricht sich für einen Transport und die „maximale Therapie“ aus. Mit dem Onkologen wird daraufhin vereinbart, dass er mit dem erstbehandelnden Krankenhaus, neben welchem er auch seine Praxis habe, Rücksprache halte und dort ein Bett für den Patienten reserviere. Das etwa 20 km entfernt gelegene Krankenhaus verfüge neben einer allgemeinen Inneren auch über eine Palliativstation.
Während des Telefonates und der Betreuung durch die RD-Mitarbeiter hat sich die Situation offenbar etwas entspannt. Das Atemmuster ist immer noch unregelmäßig, die Frequenz bei etwa 8/min. Der Puls stellt sich weiterhin bradyarryhthmisch dar, die Frequenz liegt nun bei etwa 48/Minute, was auch dem Carotispuls entspricht. Peripher lässt sich weiterhin kein Puls tasten, eine Sauerstoffsättigung ist nicht sicher ableitbar. Die liegende Portnadel wird zunächst mit Vollelektrolytlösung gespült, diese zeigt sich auch rückläufig. Danach werden 10 mg Morphin und 250 mg Natriumprednisolon-21-succinat (Solu Decortin) verabreicht. Hiernach wird der Patient sichtlich entspannter, die Herz- und Atemfrequenz bleibt unverändert.
Es erfolgt der Transport im Tragetuch über das Treppenhaus und das Verbringen des Patienten in den RTW. Der Patient zeigt sich auf dem beschriebenen Niveau stabil. Mit der Lebenspartnerin wird vor dem Transportbeginn im Konsens besprochen, dass – so es auf dem Transport zu einem Kreislaufstillstand käme – keine lebensverlängernden Maßnahmen durchgeführt würden.
Mit der Angehörigen, der RTW-Besatzung und dem NEF-Fahrer ist so Übereinstimmung über den mutmaßlichen Patientenwillen und den daraus abgeleiteten Transport erzielt worden. Der Notarzt fühlt sich bei dieser Maßnahme jedoch weiter unwohl, akzeptiert dies aber als Patientenwunsch.
Hätte man hier anders handeln sollen?
Dr. med. Frank Höpken
Ärztlicher Leiter Rettungsdienst
Reeser Landstraße 31
46483 Wesel
Ein großes Kompliment an den Notarzt vor Ort, der sich mit viel Engagement um eine bestmögliche Versorgung bemüht hat!
Man mag den Transport ins Krankenhaus „nur zum Sterben“ sicher in jedem einzelnen Fall kritisch hinterfragen, in diesem Fall konnte meines Erachtens der Patient bei fehlender ambulanter Anbindung und mit der Situation überforderter Lebensgefährtin auch nicht in der häuslichen Umgebung verbleiben.
Ein derartiges Spannungsfeld lässt sich im Einsatz nur schwer lösen, wünschenswert wäre natürlich eine Klärung im Vorfeld.
Weiterer Verlauf des August-Falls 2019 :
Während der Patient im RTW zum Transport gesichert und eine Tasche mit Patienteneigentum zum RTW gebracht wird, beginnt der Notarzt, das DIVI-Protokoll auszufüllen. Das Standard-Monitoring wird übertragen, nur ist – da die Portnadel genutzt wurde – noch kein Glucosewert bestimmt worden. Der Notarzt bittet den Notfallsanitäter um eine kapilläre Bestimmung. Der Blutzuckerspiegel liegt bei 30 mg/dl. Die VEL wird durch Glucose 10% 100 ml ausgetauscht und infundiert. Nach 10 Minuten liegt der BZ bei 64 mg/dl, die Atemfrequenz steigt auf 10/min (regelmäßig), die Pulsfrequenz auf 60/min, im EKG zeigt sich ein Sinunsrhythmus. Es kann ein peripherer Puls getastet werden, der jetzt messbare Blutdruck liegt bei 95/60 mmHg, die SO2 wird mit 95% unter 4 l/min O2 gemessen. Der Patient wird zunehmend wacher, öffnet die Augen, kann fixieren und gezielt die Arme seitengleich bewegen. In der Zielklinik kann er bereits wieder mit seiner Lebenspartnerin kommunizieren, wenngleich die massive Einschränkung durch das fortgeschrittene Tumorleiden weiter imponiert.
Schlußfolgerung:
Hypoglykämien infolge eines Mangels an mobilisierbarer Glukose während längerer Nüchternphasen (Substratmangel) können bei schwerer Malnutrition auftreten, Folge schwerer Leber- oder Nierenerkrankungen sein oder auf einer ausgeprägten metastatischen Durchsetzung der Leber beruhen.
Der Fall zeigt, dass die Hypoglykämie immer wieder ein klassischer „Pitfall“ (Fallstrick) der Notfallmedizin sein kann, wenn offensichtliche andere Kausalitäten vorliegen. Die standardmäßige Blutzuckerbestimmung bei vigilanzgeminderten Patienten sollte immer zum Standard der Erstuntersuchung gehören.
Dr. med. Frank Höpken
Ärztlicher Leiter Rettungsdienst
Reeser Landstraße 31
46483 Wesel