Fall des Monats November 2022

Alarmierungsmeldung Montag 20:30 Uhr:

Die Leitstelle informiert die auf der Rettungswache befindliche NEF-Besatzung, dass der im Einsatz befindliche RTW mit einer gestürzten Person (Sturz < 3 Meter) gleich an der Rettungswache eintreffen würde und der Notarzt zusteigen sollte.

Angabe der RTW-Besatzung zum Notfallereignis:

Die RTW-Besatzung war alarmiert worden aufgrund des Treppensturzes einer 75-jährigen Frau in einem Mehrfamilienhaus. Das Sturzereignis sei nicht beobachtet worden. Die Gestürzte muss – entsprechend der Situation vor Ort – eine 4-stufige Steintreppe heruntergefallen sein mit anschließender Schädelprellung und Platzwunde links parietooccipital. Die Mitbewohner des Hauses seien durch den Lärm alarmiert worden und hätten die Frau auf dem Rücken liegend vorgefunden. Sie sei für ca. 2 Minuten nicht ansprechbar gewesen. Die Mitbewohner hätten sofort die Rettungsleitstelle angerufen. Die Verständigung mit der Verletzten ist aufgrund der überwiegenden Fremdsprachigkeit (russisch) eingeschränkt gewesen. Eine Hausbewohnerin teilt dem Rettungsteam mit, dass die Gestürzte nicht in diesem Haus wohnt, sondern bei Ihrer Tochter zu Besuch sei. Die Tochter ist allerdings nicht vor Ort anwesend und ihren 5-jährigen Sohn, der in der Wohnung mit seinem Handy gespielt hatte, hatten die Nachbarn zur Vermeidung des Anblicks seiner gestürzten Oma in ihrer eigenen Wohnung untergebracht. Die gestürzte Frau stellt in gebrochenem Deutsch mehrmals die gleiche Frage: „Was ist .. ? “

Erstbefund der RTW-Besatzung: Das RTW-Team hat den Erstbefund gemäß ABCDE-Schema erhoben. A, B oder C-Probleme bestehen nicht. Atemwege frei. Keine Dyspnoe, keine Zyanose SpO2 : 97 %. 12 Atemzüge / Minute, Kreislaufscreening  RR : 160 / 75 mm HG , Puls 85 /min rhythmisch. Ein Augenöffnen kann durch lautere Ansprache motiviert werden. Pupillen mittelweit, isokor, Reaktion auf Licht und Konvergenz prompt. Im Bereich des behaarten Schädels ist links parieto-occipital eine deutliche gut mandarinengroße Schwellung mit 6 cm langer Platzwunde sichtbar. Es zeigt sich ein größeres offensichtlich älteres Hämatom im linken Jochbeinbereich mit gelb-grünlicher Verfärbung. Im Bereich der Schädelkalotte rechts temporoparietal ist eine 14 cm lange bogenförmig geführte wohl ältere Narbe sichtbar. Bei der Inspektion von Thorax, Abdomen, der Wirbelsäule und den Extremitäten keine Deformität und keine Prellmarken sichtbar. Auch keine Schmerzäußerungen der Patientin bei der Palpation von Rumpf und Extremitäten. Adäquate Reaktion der Patientin auf taktile Reize in der Körperperipherie.

Erstbehandlung durch das RTW-Team:
Immobilisierung der Patientin auf dem Spineboard mit Headblock. Die Anlage eines intravenösen Zugangs gelingt bei schlechten Venenverhältnissen der Patientin primär nicht. Blutzucker-Stix: 158 mg/dl.

Eine klärende Kommunikation mit der gestürzten Frau ist nicht möglich. Sie stellt ungerichtet nochmals die gleiche Frage: „ Was ist …? “.

Die Mitbewohner des Hauses kennen die Mobilfunknummer der Tochter nicht. Bei der kurzen Sichtung der Wohnung der Tochter finden sich auf den ersten Blick keine Tablettenboxen und keine medizinischen Dokumente / keine Pflegemappe o.ä..

 

Die RTW-Besatzung transportiert die gestürzte Frau in den RTW und fordert aufgrund der unverändert erschwerten Beurteilbarkeit der Situation eine Notarztbegleitung an.

Die Rettungswache mit Notarztstandort liegt nur 2 Strassen vom Einsatzort entfernt.

 

Verlauf nach Zusteigen des Notarztes:

Der zugestiegene Notarzt kann die unklare Situation mit erschwerter Beurteilbarkeit der gestürzten Frau nachvollziehen und sieht die Notwendigkeit einer raschen weitergehenden Befundklärung.

Ein intravenöser Zugang kann am anderen Arm nun erfolgreich gelegt werden. Unveränderte Werte bei der Kontrolle der Vitalparameter. Pupillenbefund weiterhin unauffällig.

Die Notfallort befindet sich auf dem Weg zur ausgewählten Klinik der Maximalversorgung.

 

Mögliches Vorgehen zur weiteren Klärung?

Arbeitsdiagnose?

 

 

Dr. Gerrit Müntefering

Arzt für Chirurgie/Unfallchirurgie/Notfallmedizin

Lessingstraße 26

47445 Moers

 

3 thoughts on “Fall des Monats November 2022

  1. ABC stabil, multiple Narben lassen an eine OP im oder am Kopf/Gehirn denken, Ebenfalls die Bogennaht.
    Abklärung primärer Sturz oder Epilepsie/Krampfanfall und dann sekundärer Sturz. Dieses würde auch die älteren Blessuren erklären.
    -keine weiteren Maßnahmen
    -Überwachung während Transport
    -CCT
    -Abklärung Krampfanfall/Epilepsie

    LG Frank E.

  2. Sehe ich medizinisch genauso wie Frank.
    Als Add-on könnte man das Zielkrankenhaus informieren, dass ein Dolmetscher benötigt wird, dann kann der schon einmal organisiert werden.
    Am besten noch das Jugendamt kontaktieren (lassen), damit die sich je nach Bedarf und in Absprache mit den Nachbarn um das Kind kümmern, solange die Mutter nicht da ist. Dann würde es auch eher auffallen, falls die Mutter unerwartet lange weg ist, und alles weitere könnte zügig in die Wege geleitet werden.
    Der letzte Satz der Fallbeschreibung führt einen womöglich in Versuchung, auf dem Weg ins KH „nochmal eben“ am Einsatzort vorbeizuschauen. Obwohl ich mir als nicht primär anwesender NA sicherlich gerne ein genaueres Bild der Situation vor Ort verschaffen würde und sichergehen wollen würde, dass das RTW-Team nicht übersehen hat, würde ich diesem Impuls nicht folgen. Die Pat. gehört zügig einer definitiven Diagnostik und entsprechender Therapie zugeführt, und zwar ohne Verzögerung. Außerdem halte ich die Wahrscheinlichkeit, dass man auf die Schnelle eine wirklich relevante Erkenntnis gewinnen würde, für minimal. Sollte dem Team einfallen, dass man mit den Nachbarn keine Absprache getroffen hat, wie es wann weitergehen soll (Telefonnummern notiert, Info an LS, wenn Mutter auftaucht/nicht auftaucht, Jugendamt ist informiert etc.) könnte man in Erwägung ziehen, den NEF-Fahrer allein dort vorbeizuschicken und dann ins KH nachzukommen. Oder man bittet die Leitstelle, das zu übernehmen.

  3. Weiterer Verlauf des Novemberfalls 2022:

    Steffi und Frank haben die mögliche Marschrichtung und mögliche Differentialdiagnosen bereits treffend angesprochen.
    Der Notarzt sieht die zeitkritische Situation ähnlich wie Steffi und Frank. Aufgrund der absolut unklaren Situation schickt der Notarzt den NEF-Fahrer zum Einsatzort, um evt. vom Enkelsohn die vermutlich abgespeicherte Handy-Nummer seiner Mutter oder sonstiger Angehöriger zu erhalten.
    Es wird nun nach einer neurochirurgischen Abteilung gesucht. Alle 3 von der Leitstelle abgefragte neurochirurgische Abteilungen der Umgebung sind aktuell nicht aufnahmebereit, so dass zum vordringlichen CCT der Transport in ein nahegelegenes Krankenhaus mit neurologischer Abteilung eingeleitet wird. Im Vorfeld wird abgefragt, ob eventuell russisch sprechendes Personal vor Ort ist und hinzugezogen werden kann.
    Der Transport verläuft ohne Besonderheiten. RR : 150 / 70 mm HG , Puls 80 /min rhythmisch, SpO2 : 95 %. 12 Atemzüge / Minute Die Vigilanz und Kommunikationsfähigkeit der Gestürzten ist nach wie vor eingeschränkt. Ein Augenöffnen kann auch weiterhin durch lautere Ansprache noch motiviert werden. Die Pupillen sind mittelweit, isokor, mit prompter Lichtreaktion.
    Auf der Hälfte der Fahrtstrecke meldet sich der NEF-Fahrer, der die Lage vor Ort und die aktuelle Versorgung des Jungen klären konnte. Außerdem hat er die Handynummer der Tochter erhalten. Im Telefonat habe die Tochter mitgeteilt, dass ihre 75 jährige Mutter seit 3 Tagen ein leichtes Taubheitsgefühl im rechten Arm und rechten Bein angegeben habe. Auch sei eine leichte Artikulationsbeeinträchtigung auffällig gewesen, die Mutter habe sich zur Unterhaltung sehr konzentrieren müssen.
    An Vorerkrankungen sei eine Neigung zu Schwindelsensationen und ein Bluthochdruck bekannt. Zu einer eventuell vorausgegangenen Kraniotomie bei ihrer Mutter kann die Tochter allerdings nichts sagen, die Operation müsse wohl in der Jugend in Russland durchgeführt worden sein. Genaueres dazu habe die Mutter jedoch nicht mitteilen wollen (psychischesTrauma ? häusliche Gewalt ?).
    Bei der nochmaligen Sensibilitätsprüfung im RTW zeigt sich eine adäquate Reaktion der Patientin auf taktile Reize auch auf der rechten Körperseite. Sensibilitätsstörungen sind nicht festzustellen.
    In der Notaufnahme der Klinik ist eine russisch sprechende Krankenschwester vor Ort. Aber auch bei einem Gesprächsversuch in der Muttersprache kommt keine adäquate Kommunikation zustande.

    Es wird sofort ein Schädel-CT veranlasst, das ein subdurales Hämatom bds. zeigt mit mäßig raumfordernder Wirkung.
    Daraufhin erfolgt die Notfallverlegung in eine „mittlerweile wieder aufnahmebereite“ neurochirurgische Klinik. Das Hämatom wird noch am gleichen Abend entlastet mit erfreulicherweise raschem Aufklaren der 75-jährigen Frau und rascher Rekonvaleszenz innerhalb kurzer Zeit. Die Patientin kann nach 12 Tagen in die häusliche Umgebung entlassen werden.

    In einem Telefonat mit dem Notarzt 6 Wochen später berichtet die 75-jährige Frau über Wohlbefinden ohne verbliebene Defizite.

    Dr. Gerrit Müntefering
    Arzt für Chirurgie/Unfallchirurgie/Notfallmedizin
    Lessingstraße 26
    47445 Moers

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