Fall des Monats April 2021

Alarmierungsmeldung Freitag um 23:00 Uhr:

63 jähriger Mann, Aggressivität, V.a. Unterzuckerung

Situation vor Ort und Vorgeschichte:

Das NEF, das sich gerade von einem vorangegangenen Einsatz am Zielkrankenhaus frei gemeldet hat, trifft bei längerem Anfahrtsweg 9 min nach Alarmierung kurzzeitig nach dem RTW am Einsatzort ein (Einfamilienhaus in kleiner ländlicher Dorfgemeinde).

An der Tür stehen die Ehefrau und die Schwägerin des Notfallpatienten. Die Ehefrau erteilt mit, dass bei ihrem Mann ein Insulinpflichtiger, schwer einstellbarer Diabetes mellitus bestünde und er sich aktuell wohl wieder unterzuckert sei. Das Problem bestände darin, dass ihr Mann in Phasen der Unterzuckerung oft desorientiert wäre und dann auch sehr aggressiv sei. In ihrer Heimatstadt in Norddeutschland hätte (bis vor dem Umzug vor 2 Jahren) aufgrund wiederholter Hypoglykämie-Phasen der Notarzt und regelmäßig die Polizei hinzugerufen werden müssen, da der Patient im Rahmen der Erstbehandlung immer erheblichen Widerstand geleistet hätte.

Die Schwägerin führt das Rettungsteam in die Wohnung des Untergeschosses. Hier wird ein 63-jähriger Mann im Schlafzimmer nackt herumlaufend angetroffen. Bereits beim Öffnen der Tür ruft der Patient, dass alle den Raum verlassen sollen und droht damit, mit einer Glasflasche zu werfen.

Daraufhin sofortige Alarmierung der Polizei, die 10 min später mit einer Mannschaftsstärke von vier Beamten eintrifft.

Zur jüngeren Anamnese befragt, berichtet die Ehefrau, dass ihr Mann, der seit mehreren Jahren Diabetiker sei, vor ca. einem Jahr durch den Diabetologen neu eingestellt worden sei. Die Compliance des Patienten bei der diabetologischen Behandlung und Diabetesschulung sei allerdings eingeschränkt gewesen. Ihr Mann sei halt kein Arztgänger. Außerdem berichtet sie über einen bis vor zwei Jahren bestehenden regelmäßigen stärkeren Alkoholabusus ihres Mannes.

Aktuell würde ihr Mann allerdings nur noch bei Feiern oder am Wochenende wenige Glas Bier trinken. Am heutigen Abend habe ihr Mann gegen ca. 21:00 Uhr beim Blutzuckerstix einen Wert von 55 mg/dl gemessen. Daraufhin habe er die abendliche Insulininjektion ausgelassen.  Trotz der gemessenen Hypoglykämie habe der Patient nur sehr wenig gegessen (ein Knäckebrot).

Seit 20 Minuten sei bei dem Patienten nun eine deutliche Verwirrtheit und Aggressivität aufgetreten. Die daraufhin angebotene glukosehaltige Nahrung (Coca-Cola, Marmeladenbrot) sind vom Patienten abgelehnt worden.

Erstmaßnahmen:

Die vier Polizeibeamten verschaffen sich Zutritt zum Schlafzimmer. Der 63-jährige Patient ist überraschenderweise dann nur geringfügig renitent oder aggressiv. Es besteht allerdings noch eine mäßige Agitiertheit. Er sitzt am Bettrand und leistet gegen das prophylaktische Handanlegen durch die Beamten zur Sicherung der notärztlichen Erstversorgung nur kurzzeitigen leichten Widerstand.

Es erfolgt die Anlage eines intravenösen Zugangs am Handrücken und – ausgehend von der bestehenden Hypoglykämie – die zügige i.v.-Gabe von Glukose 10 % .

Der zeitgleich abgenommene Blutzucker-stix ergibt dann aber überraschenderweise einen Wert von 235 mg /dl.

Daraufhin sofortige Beendigung der Glukosegabe.

Blutdruck: 150 / 90 mmHg Puls 100 / Minute mit rhythmischer Herzaktion.

Die EKG Ableitung ergibt eine Sinusrhythmus mit schmalen Kammerkomplexen. Frequenz bei 100 Aktionen / Minute ohne Arrhythmie.

Bei der weiteren klinischen Untersuchung ist eine mäßige Pupillendifferenz rechts > links feststellbar. Pupillenreaktion auf Licht und Konvergenz bds. prompt. Die orientierende Prüfung der Hirnnerven und der peripheren Sensomotorik ergibt keinen pathologischen Befund. FAST-Test negativ. Pathologische Reflexe sind nicht auflösbar.

Der Patient ist zum aktuellen Ereignis und seiner aggressiven Absence nicht orientiert. Die eigenen Stammdaten einschließlich Wohnadresse können deutlich verlangsamt, aber korrekt genannt werden.

Der Patient wird darüber informiert, dass eine weitere stationäre Abklärung des Krankheitsbildes dringlich erforderlich sei. Dem 63-jährigen Mann wird mitgeteilt, dass die aktuell abgelaufene Desorientiertheitsphase nicht durch eine Unterzuckerung erklärt werden könne.

Eine weitergehende neurologische Diagnostik einschließlich Schädel CT wäre dringend erforderlich, auch aufgrund der bestehenden Pupillendifferenz.

Der Patient meint aber, sich erinnern zu können, dass früher schon einmal eine Ungleichheit der Pupillen festgestellt worden wäre.

Der Patient lehnt die ihm angeratene Krankenhausbehandlung und Überwachung ab.

 

Die Polizeibeamten verweisen auf den nun nicht mehr aggressiven Zustand des Patienten und einen ihnen angekündigten Folgeeinsatz und wollen sich entfernen.

 

Weiteres Procedere

 

Dr. Gerrit Müntefering
Arzt für Chirurgie / Unfallchirugie / Notfallmedizin
Lessingstr. 26
47445 Moers

5 thoughts on “Fall des Monats April 2021

  1. Der Patient scheint ja orientiert zu sein. Ein Atem-Alkoholtest wäre noch eine gute Idee (auch durch die Polizei). Und wenn er orientiert ist, darf er auch zu Hause bleiben gegen ärztlichen Rat.

  2. Zusammengefasst haben wir es mit einem qualitativ bewusstseinsgestörten Patienten zu tun, der zumindest im Moment den Transport verweigert.
    Die Hypoglykämie würde sehr gut zur Symptomatik passen und irgendwie ist mir nicht klar wie aus dem 55 g/dl Zucker einer über 200 werden soll ohne dass der Patient gegessen hat. Sicherheitshalber würde ich daher den BZ-Test wiederholen. Sofern der Patient weiterhin nicht unterzuckert sein sollte, stellt sich die Frage ob der Patient vielleicht gekrampft hatte. Trinkt er doch mehr als von der Ehefrau berichtet und hatte er jetzt vielleicht einen Entzugskrampf? Oder ist der Patient betrunken? Ehrlich gesagt glaube ich nicht, dass hinter der Pupillendifferenz bei fehlender fokaler Neurologie und lediglich verlangsamten Patienten irgendetwas bedrohliches dahintersteckt. Zumindest nicht etwas, was akut entstanden ist (Blutung/Stroke). Trotzdem kann man diese natürlich nicht ignorieren.
    Die Polizei würde ich darauf hinweisen, dass ggf. eine Klinikeinweisung gegen den Willen des Patienten stattfinden wird und sie, sofern sie jetzt gehen, zeitnah nochmal kommen müssten. Zwingen kann ich die Polizei aber denke nicht zu bleiben. Vielleicht gibt es ja wirklich Dringenderes was polizeilicher Intervention bedarf. Zumindest scheint der Patient ja derzeit friedlich zu sein und ich würde ihn jetzt nicht ,,Holterdipolter“ aus dem Haus zerren, sondern nochmal in Ruhe versuchen die Anamnese, die Hintergründe und den Grund für seinen Unwillen zur Klinikeinweisung klären.
    Häufig hilft ja behutsames und ruhiges agieren um den Patienten zu überzeugen. Vielleicht kann auch die Ehefrau und die Schwägerin ruhig und besonnen Unterstützung leisten.
    Aktuell scheint mir der Patient aufgrund seiner situativen Desorientierung und seiner Verlangsamung nicht einwilligungsfähig. Zudem war er zuvor komplett inadäquat und verwirrt (nacktes Herumlaufen, drohen). Dies scheint bei ihm ja nicht grundsätzlich der Fall zu sein (in Großstädten gibt es ja manchmal solche Patienten). Sollte sich das Geschehen nicht in Kürze aufklären und der Herr weiter den Transport verweigern, würde ich ihn gegen seinen Willen in eine Klinik mit neurologischer Abteilung mitnehmen.

  3. Wieder ein kniffliger Fall, Danke dafür:
    1. Medizinisch: Diskrepanz zwischen anamnestischer Angabe bek insulinpfl Diabetes , schlechte Compliance, vorher Bestimmung Bz und Hypoglykämie- es zwingt sich mir die Vermutung eines Hypophysentu auf, Pupillendifferenz – auch bekannt- führt mich weiter auf diese Fährte. Aber was tun vor Ort, letztendlich Transport in eine geeignete Einrichtung.
    2. Verfahrenstechnisch: Wie bekomme ich die Person in die erforderliche weitere Diagnostik? Freiheitsberaubung- sprich Psych KG da Fremdgefährdung und Eigengefährdung bei psychot Situation?
    Mit Polizeibegleitung, und welche Klinik?
    3. Rechtlich: Wie rechtfertige ich den polizeibegleitenden Transport vor dem Klinikkollegen, welche Abteilung steuere ich an, wie mache ich die letztendliche medizinische Hintergrundsvermutung einem Psychiater klar, wie soll ich es gewichten, mache ich mich strafbar, da Eingriff in die hoheitliche Selbstbestimmung des Pat ohne Not?
    Ziehe ich mich mit der still geäusserten Vermutung einfach nur zurück und empfehle der Frau, doch mal mit dem HA und der Kopie meines Divi Protokolls in der Hand zu sprechen- und Gott befohlen?
    Es bleibt- wie so häufig, schwierig und für einen pat orientierten NA unbefriedigend

  4. Weiterer Verlauf des April-Falls 2021:

    Vor dem Abrücken der Polizeibeamten wird auf Initiative des Notarztes noch ein Alkoholtest eingeleitet, der keinen positiven Befund ergibt.
    Die Ehefrau des Patienten wird vom Notarzt befragt, ob sie die Aussage ihres Mannes zu seiner vorbestehenden Pupillendifferenz bestätigen kann.
    Die Befragte erinnert sich an einem Augenarztbesuch ihres Mannes vor zwei Jahren mit Feststellung einer geringfügigen Ungleichheit der Pupillen.
    Eine nun mögliche körperliche Untersuchung des kooperativen Patienten ergibt keinen auffälligen Befund. Keine pathologischen Reflexe. Keine Hinweise auf ein abgelaufenes Schädel-Hirn-Trauma.
    Auch Orientierung und Gedächtnisleistung des Patienten können zufriedenstellend geprüft werden.. Die Kontrolle des Blutzuckerstix ergibt einen Wert von 215 mg/dl. Die Kreislaufparameter liegen im Normbereich.
    In Gegenwart mehrerer Zeugen und im Beisein seiner Ehefrau wird dem Patienten vom Notarzt dennoch eindringlich angeraten, eine stationäre Abklärung dieses Ereignisses durchführen zu lassen.

    Der Patient entscheidet sich gegen einen Transport und gegen eine weitere Diagnostik in der nahegelegenen Klinik. Die Bestätigung der Transportablehnung per Unterschrift würde keine wirkliche Absicherung des Rettungsteams bedeuten aufgrund der kurz zuvor noch deutlich eingeschränkten Urteilsfähigkeit des Patienten.
    Die Ehefrau sichert jedoch zu, dass sie ihren Mann zeitnah zu einer weiteren Diagnostik motivieren und begleiten werde.
    Der weitere Diagnostikverlauf ist leider unbekannt.

    Dr. Gerrit Müntefering
    Arzt für Chirurgie / Unfallchirugie / Notfallmedizin
    Lessingstr. 26
    47445 Moers

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