Einsatz 10 Uhr morgens, trockenes Wetter, 12 °C, ein Hauch von Frühling liegt in der Luft. Die Alarmierung des Rettungsdienstes erfolgt, da ein Arbeiter bei Reinigungsarbeiten von einem Dach gestürzt sei, jedoch habe er eine Absturzsicherung getragen.
Da das eigentlich zuständige NEF und RTW sich im Einsatz befinden, werden NEF und RTW aus benachbarten Rettungswachenbereichen im Rahmen der überörtlichen Hilfe disponiert.
11 Minuten nach Alarmierung erreicht das NEF als ersteintreffendes Rettungsmittel die Zieladresse: ein Bauernhof, der sehr einsam und ländlich gelegen ist. Initial wird dort aber weder ein Einweiser noch ein Patient vorgefunden. Erst nach lautem Rufen erscheint eine Bäuerin, die den Notarzt und den Notfallsanitäter in einen Kuhstall leitet. Dort ist die Bäuerin damit beschäftigt, die Kuhherde zurückzudrängen, die sichtbar aufgeregt durch den Stall läuft. Die Bäuerin berichtet von einem Absturz im hinteren Bereich des Stalls, sie müsse aber zuerst für den Rettungsdienst einen gesicherten Zugang zum Patienten schaffen. Rinderherden stellen zwar eine selten angetroffene Gefahr der Einsatzstelle dar, etwa 50 Milchkühe unterstreichen aber deutlich die Notwendigkeit, die GAMS-Regel auch in diesem speziellen Fall zu beachten.(GAMS steht ja für: G = Gefahr erkennen A = Absperren errichten M = Menschenrettung durchführen S = Spezialkräfte anfordern) Nach einigen Minuten kann die Kuhherde allerdings erfreulicherweise so eingepfercht und gesichert werden, dass der Zugang über eine Nebentür in den hinteren Stallbereich möglich ist.
Hier wird ein junger Mann vorgefunden, der durch das Dach des Stalls gebrochen und etwa 6 Meter tief auf den Spaltenboden aus Stahl und Beton gestürzt ist. Zwar trägt der Verletzte die anfangs beschriebene Absturzsicherung, jedoch scheint diese nicht eingehakt gewesen zu sein, so dass er im freien Fall in die Halle stürzte. Neben dem Patienten kniet sein Kollege, der auf dem gleichen Dach gearbeitet hat und nur berichten kann, dass er plötzlich seinen Kollegen nicht mehr gesehen habe.
Der Zugang zum Patienten ist schwierig. Der etwa 25jährige, adipöse Patient liegt in Bauch-/Seitenlage inmitten reichlich Rinderfäzes. Die Augen sind geschlossen, er gibt unverständliche Laute von sich und wehrt gezielt jegliche Berührung ab. Der GCS wird mit 8 bestimmt. Die Extremitäten sind vollständig verschmutzt, es scheinen aber keine Bewegungseinschränkungen vorzuliegen, die Rekap-Zeit liegt unter 2 Sekunden.
Die Ersteinschätzung des Notarztes mit einem zu vermuteten C- und sicher einem vorhandenen D-Problem dauert nur wenige Sekunden, die HWS wird manuell durch den Notarzt fixiert. Es wird kommuniziert, dass es sich um einen kritischen Patienten nach Absturztrauma mit vorliegendem Schädel-Hirn-Trauma (SHT) und noch unklarem Verletzungsmuster handelt. Aufgrund der Örtlichkeit und aufgrund des vermuteten Verletzungsmuster wird sofort ein RTH nachgefordert.
Die Bäuerin wird derweil gebeten, den dringlichst erwarteten RTW einzuweisen.
Der etwa 120 kg schwere, suffizient atmende Patient (AF 12) mit kräftigem Puls (60/min) scheint Schmerzen zu haben, eine Kommunikation ist jedoch weiterhin nicht möglich. Die Hautfarbe lässt sich bei den massiven Verschmutzungen nur bedingt beurteilen.
Da keine Möglichkeiten zur technischen Rettung bestehen, wird bei suffizienten Kreislaufparametern zunächst auf lageverändernde Maßnahmen verzichtet, die HWS weiter manuell stabilisiert und das Eintreffen des RTW abgewartet.
Um den Patienten etwas besser beurteilen zu können, wird vom Notfallsanitäter die Kleidung von dorsal her aufgeschnitten. Es sind keine äußeren Verletzungszeichen erkennbar, der Thorax hebt und senkt sich seitengleich, keine Fehlstellungen der Extremitäten, DMS o.B., Hufabdrücke durch die Rinder sind ebenfalls nicht auf der Körperoberfläche erkennbar. Zum Wärmeerhalt wird der Patient mit einer Patientendecke abgedeckt.
Jedoch scheint der Patient nun zunehmend unruhig zu werden, die HWS lässt sich aufgrunddessen nur schwerlich achsgerecht stabilisieren. Der Arbeitskollege wird zur Beruhigung des Patienten mit in die Behandlung eingebunden, der Versuch des beruhigenden Zuredens erscheint allerdings nur bedingt erfolgreich. Der Versuch des Notfallsanitäters, nach einer Möglichkeit eines peripher-venösen Zugangs zu schauen, mündet in massiven, gezielten Abwehrbewegungen des Patienten.
Der Notarzt entscheidet, bei Zeichen vorhandener Schmerzen und der aktuell nicht gegebenen Möglichkeit, einen Zugang zu etablieren, 50 mg S-Ketamin (Ketanest S) intramuskulär in den linken M. deltoideus zu injizieren. Etwa 3 Minuten nach Applikation wird der Patient ruhiger, die Abwehrbewegungen geringer.
Gemeinsam mit der nun eintreffenden Besatzung des RTW wird der Patient achsgerecht auf ein Spineboard gedreht und unter fortgeführter HWS-Immobilisiation in den RTW verbracht.
Nun erfolgt die prioritätenorientierte Untersuchung des auf dem Rücken liegenden Patienten im beheizten RTW. Nach grober Reinigung des Patienten kann auch ein EKG etabliert und die Pulsoximetrie angelegt werden. Die Pupillen sind isokor, seitengleich licht- und konvergenzreagibel. Bis auf eine Prellmarke am linken Oberarm sind keine äußeren Verletzungszeichen erkennbar. Die Sauerstoffsättigung SO2 beträgt 100%, der Patient ist bradykard (54/min), RR 150/90 mmHg, im EKG Sinusrhythmus. Auskultatorisch ist die Lunge seitengleich belüftet mit vesikulärem Atemgeräusch bds.
Nun besteht bei dem deutlich ruhigeren Patienten auch die Möglichkeit, an beiden Armen je ein großvolumiger peripherer Venenzugang zu etablieren und hierüber Vollelektrolytlösung zu verabreichen. Zudem wird aufgrund der Unfallkinetik ein Beckengurt angelegt und die Beine in Innenrotation fixiert.
Im Rahmen der Trauma-Untersuchung erfolgt eine Sonographie (POCUS, Sonosite iViz®) : Im EFAST – Untersuchungsgang zeigt sich kein Perikarderguss, keine Pleuraergüsse, kein Pneumothorax, keine freie Flüssigkeit intraabdominell, kein Hinweis auf Verletzung eines parenchymatösen Organs.
Nun landet auch der angeforderte RTH nahe der Einsatzstelle. Dem Team des RTH wird ein kreislaufstabiler Patient mit einem GCS von 8 ohne A- und B- mit fraglichen C- und deutlichem D-Problem übergeben. Die Pupillen weisen weiterhin keine Pathologika auf.
Der Notarzt des RTH entscheidet, zunächst keine Narkose einzuleiten, sondern den Transport zeitnah zum nächstgelegenen Maximalversorger (ca. 14 Minuten Flugzeit) durchzuführen. Da der Patient unter der S-Ketamin-Analgesie ruhig und schmerzfrei zu sein scheint, wird aktuell auch auf eine weitere medikamentöse Eskalation der Anlagosedierung verzichtet.
Beim Umlagern erbricht der Patient jedoch, so dass doch eine Narkose und endotracheale Intubation erfolgt, die problemlos mit dem Videolaryngoskop und einem 8,5 Ch Tubus durchgeführt wird. Es erfolgt eine Voranmeldung des Patienten im Schockraum des Maximalversorgers und wird dort nach Transport mit dem RTH intubiert, beatmet und kreislaufstabil übergeben.
Diskussionsanstoß für die Leser/innen des März-Falls :
Verdachtsdiagnose ?
Bezüglich der Erstversorgung des Sturzverletzten durch die ersteintreffende NEF-Besatzung wäre eine Forumsdiskussion zum (zeitlichen) Vorgehen bei der Patientenrettung und über weitere Optionen der Analgosedierung des unruhigen Patienten sicherlich interessant.
Dr. med. Frank Höpken
Facharzt für Chirurgie / Notfallmedizin
Ärztlicher Leiter Rettungsdienst Kreis Wesel
Vielen Dank für das Fallbeispiel!
– Einsatztaktische Aspekte: Aus der Ferne ist es natürlich schwer, das Meldebild im Notruf zu beurteilen. In Situationen, die nicht sehr eindeutig technische Rettungsoptionen von vornherein als nicht erforderlich erscheinen lassen, ist die zusätzliche Alarmierung der Feuerwehr sinnvoll. Dadurch kann die Sicherheit der eingesetzten Kräfte erhöht werden (z.B. fraglich absturzgefährdete Bauteile des Dachs) und Einsatzoptionen wie zügige Rettung aus dem Gefahrenbereich, (Grob)dekontamination und Unterstützung beim Transport stehen zur Verfügung. Die Kräfte des Rettungsdienstes können sich vorrangig auf die medizinische Versorgung konzentrieren. Bei den gegebenen zeitlichen Abläufen in Randgebieten oder auf dem Lande bedeutet das Verschieben der Alarmierung in die Nachforderung oft, sich Optionen zu veschließen, statt sie offen zu halten (Es ist besser zu haben als zu brauchen).
– Analgosedierung des agitierten Patienten: Eine gute Alternative ist die Sedierung durch nasale Applikation von Midazolam mittels MAD.
– Indikation zur Intubation: Auch hier ist eine Beurteilung der Gesamtsituation aus der Ferne gewagt. Im Hinblick auf das im Rahmen des Primary Survey festgestellte D-Problem (GCS 8) / Verdachtsdiagnose SHT ist das Erbrechen vor Transportbeginn nicht ganz unerwartet. Während des Lufttransports hätte dabei das Potential einer ernstzunehmenden Komplikation bestanden.
Danke für den knifflichen, landwirtschaftlichen Fall:
Aufgrund des Sturzes muss primär an ein WS Problem gedacht werden, die Immobilisation HWS sinnvoll, wenn auch durch den Pat kontakariert, die Schmerzbekämpfung sinnvoll, wenn möglich, bei Sturz axial aus dem ersten Stock füsslings auf eine Betonplatte ist auch eine axiale Fraktur der Calcanei nicht abwegig. Diese Diagnostik bedarf des secondary survey im Krhs, Chapeau vor der Anwendung Focus Sono am Unfallort, welch Luxus- hoffentlich noch und zukünftig nicht mehr. Bei dem angenommenen Unfallhergang – Sturz aus 1. Stock nach unten- ist der Sturz primär auf den Schaedel möglich, aber primär nicht so häufig, somit spielt die periphere Veränderung für die Schmerzangabe eine wichtige Differentialdiagnose. Die Versorgung in der weiteren Folge ist in der Beschreibung lege artis und einfach gut. Spannend erscheint das letztendliche Ergebnis, das wir leider so häufig nicht mitgeteilt bekommen.
Wie schon gesagt, Einsatz ohne Feuerwehr ist da nicht ohne Risiko und stellt auch eine Gefährdung der Einsatzkräfte da.
Hier wäre es allein schon gegeben wegen Örtlichkeit und erreichbarkeit.
Ich denke die FF hätte in deutlich unter 10 Minuten den Einsatzort erreichen können.
Erbrechen: Schweres SHT ?
Weiterer Verlauf des März-Falls und Anmerkungen zum Transport und zur Analgesie des Patienten am Unfallort:
Im Rahmen der Schockraum-Diagnostik wird ein raumforderndes akutes Subduralhämatom festgestellt welches direkt durch die Neurochirurgen operativ ausgeräumt wird. Weitere Verletzungen sind trotz des erheblichen Absturztraumas nicht gegeben.
Das NEF als ersteintreffendes Rettungsmittel in der Traumaversorgung hat sowohl personell als ausstattungstechnisch nur begrenzte Möglichkeiten. Gerade in ländlichen, dünn besiedelten Gebieten kann es (bei Nichtverfügbarkeit von vorgeplanten Rettungsmitteln durch Duplizitäten) zu Eintreffzeiten jenseits der Hilfsfristen kommen.
Dem Notarzt stellte sich bei der initialen Versorgung die Frage, ob er mit nichtmedizinischen Hilfsmitteln (Leiter / Brett o.ä.) bereits vor Eintreffen des RTW mit der Rettung beginnen solle, um den Patienten aus der maximal ungünstigen Umgebungssituation zu entfernen, um bei einer Verschlechterung besser und zeitnah intervenieren zu können und um den Faktor Zeit beim kritischen Patienten zu optimieren. Er hat sich jedoch dagegen entschieden, da bei Absturztrauma ein Sekundärschaden durch Umlagerung zu befürchten gewesen wäre, zumal kein fassbares A-, B- oder C-Problem bestand.
Auch die Nachforderung der Feuerwehr zur technischen Rettung wäre in diesem Fall nur wenig zielführend gewesen, da das Eintreffen des RTW und RTH erwartet wurde und auch die Feuerwehr mit freiwilligen Kräften in der ländlichen Abgeschiedenheit längere Anfahrtszeiten gehabt hätte.
Bei wehrigem Patienten und bei Nichtverfügbarkeit eines peripher-venösen Zugangs war die Möglichkeit der medikamentösen Therapie direkt am Unfallort gering. Möglich wäre auch eine nasale Gabe über MAD gewesen; in Bauch-Seit-Lage bestand hier aber kein freier Zugang. Die Möglichkeit eines intraossären Zugangs wurde direkt verworfen, da hier eine massive Verschmutzung mit Fäzes vorlag, auch ein ansatzweise aseptisches Arbeiten wäre nicht möglich gewesen. Die intramuskuläre Applikation von S-Ketamin bietet hier eine adäquate Alternative. Das Medikament ist zur Analgesie in der Notfallmedizin mit 0,25 bis 0,5 mg/kgKG intramuskulär zugelassen.
Dr. med. Frank Höpken
Facharzt für Chirurgie / Notfallmedizin
Ärztlicher Leiter Rettungsdienst Kreis Wesel
Auch auf dem Land ist die Freiwillige Feuerwehr oft sehr schnell da. Da selbst kleine Dörfer (<1000 Einwohner) oft über ein TSF etc. verfügen.