Fall des Monats Juni 2020
Alarmierungsmeldung Montag um 21:00 Uhr :
Männliche Person, Sturz vom Garagendach, ansprechbar
Informationen zur Vorgeschichte beim Eintreffen :
9 Minuten nach der Alarmierungsmeldung Eintreffen des NEF und des RTW am Einsatzort : 2-geschossiges Haus in einer Kleinstadt. Im Hinterhofbereich befindet sich eine große, gut 2,5 Meter hohe Garage mit einem Glasdachsegment im Dachmittelteil
Der Sohn des Notfallpatienten ist vor Ort und führt das Rettungsteam zur Einsatzstelle. Er berichtet, dass sein 72-jähriger Vater das Haus nach dem Tod der Ehefrau allein bewohnen würde. Der Sohn sei heute Abend zum Haus seines Vaters gefahren, weil dieser seit Nachmittag auf mehrere telefonische Kontaktversuche nicht reagiert habe.
Er habe seinen Vater im Haus nicht angetroffen. Nach weiterem Suchen im Außenbereich habe er ihn dann auf dem Boden der Garage liegend vorgefunden. Sein Vater sei offenbar zu Reinigungsarbeiten auf das 2,5 Meter hohe Garagendach geklettert und sei dann aufgrund des wohl instabilen Mittelstegs des Glasdachsegmentes der Garage in die Tiefe gestürzt. Der 72-jährige Mann sei nach dem Sturz nicht bewusstlos gewesen, seine Hilferufe seien in der Nachbarschaft allerdings nicht wahrgenommen worden.
Situation vor Ort:
Bei Betreten der Garage liegt der Notfallpatient auf einem am Boden liegenden Metallschienenstapel unmittelbar neben einer in der Garage befindlichen Werkbank. Der Glasdefekt des Garagendachs befindet sich unmittelbar über dieser Werkbank.
Der Patient ist ansprechbar. Die Artikulation und Kommunikation sind allerdings bei verlangsamter mühsamer Sprachproduktion des Verunfallten erheblich beeinträchtigt. Er hat ein Gesichtsschädeltrauma erlitten mit deutlicher Hämatombildung im Wangen- und Jochbogenbereich bds. Außerdem besteht ein große Unterlippen- und Kinnrisswunde mit erkennbarem Verlust der Unterkieferschneidezähne und eines Eckzahns. Im Unterkieferbereich ist bei vorsichtiger Palpation eine deutliche Instabilität und Krepitation spürbar. Mäßige Blutung aus dem Nasenraum. Keine Blutung aus dem äußeren Gehörgang.
Pupillen (soweit bei Unterlidschwellung bds beurteilbar) mittelweit, keine Pupillendifferenz, Lichtreaktion erhalten.
Schädelkalotte und HWS orientierend palpatorisch unauffällig. Ein Stiffneck-Kragen kann aufgrund des erlittenen Unterkiefertraumas mit Unterkieferinstabilität nicht angelegt werden. Es erfolgt die manuelle Inline-Stabilisierung (MILS) der Kopf-HWS-Region.
Thoraxauskultation ohne pathologischen Befund. Bei der Untersuchung von Thorax sowie Ober- und Mittelbauchregion zeigen sich keine äußere Verletzungszeichen, Thorax und oberes Abdomen sind auch palpatorisch unauffällig.
Ein deutlicher Schmerzbefund findet sich allerdings in der Unterbauch- und Beckenregion. In der Region der Symphyse ist eine Kontureinsenkung mit Hämatombildung erkennbar. Hier beim vorsichtigen Versuch der Beckenstauchung über die vorderen oberen Darmbeinstachel feststellbare deutliche Instabilität des vorderen Beckenrings. Die Hüftgelenksbeweglichkeit ist bei bereits leichter Beugung schmerzbedingt deutlich eingeschränkt mit Schmerzprojektion in den Bereich des vorderen Beckenrings.
Die orientierende Untersuchung der BWS und LWS verläuft unauffällig, jedoch leichte Schmerzzunahme lumbosakral.
Oberschenkel, Kniegelenk, Unterschenkel- und Fußregion bds. hinsichtlich Schwellungen, Hämatombildungen oder Krepitationen ohne pathologischen Befund.
Periphere Sensibilität und Motorik der unteren Extremität erhalten.
Erstmaßnahmen:
Transfer des Patienten mit 4 Helfern unter Einsatz der Schaufeltrage auf die Vakuummatratze unter Beibehaltung der MILS. Die Vakuummatratze wird sofort anmodelliert und kann dann auch am Hals eine gute seitliche Führung bieten.
Bei der Bestimmung der Vitalparameter liegt der Blutdruck primär bei 100/60 mmHg, 5 Minuten später bei 85 /60 mmHg, Herzfrequenz 110 / min rhythmisch. Sauerstoffsättigung bei 90 %.
Extremitäten-EKG mit Sinustachykardie um 110 , ansonsten unauffällig.
2 großlumige intravenöse Zugänge werden gelegt.
Prioritätenliste bei der präklinischen Versorgung ?
Load and Go ?
oder
Stay and Play ?
Zielklinik ?
Dr. Gerrit Müntefering
Arzt für Chirurgie / Unfallchirugie / Notfallmedizin
Lessingstr. 26
47445 Moers
Weiterer Verlauf des Juni-Falls 2020:
Bei Hinweisen auf Beckeninstabilität und Open-Book-Verletzung wird sofort eine Beckenschlinge angelegt. Dem Beckentrauma mit erkennbarer Instabilität und anzunehmendem relevanten Blutverlust wird die dringlichste Versorgungspriorität zugeordnet. Ein Hubschraubertransport kann aufgrund der vorgerückten Uhrzeit nicht mehr im akzeptablen Zeitrahmen für den zeitkritischen Fall organisiert werden. Der erkennbar problematische Atemweg wird im Team diskutiert (10-Sekunden-für-10-Minuten-Prinzip des CRM), Bei weiterhin guten Sauerstoffsättigungswerten um 94 % (bei locker vorgehaltener Sauerstoffmaske) und nachlassender nasaler Blutung Entschluss zum zügigen Transport in eine in 25 Minuten erreichbare Klinik der Maximalversorgung ohne weitere Maßnahmen. In der ausgewählten Uni-Klinik ist eine ZMK-chirurgische Versorgungsmöglichkeit gegeben. Die Anaesthesie-Abteilung wird von den absehbaren Problemen bei der Atemwegssicherung bzw. bei der präoperativen Narkoseeinleitung in Kenntnis gesetzt. Das Team der Notaufnahme des Trauma-Zentrums ist alarmiert.
Der Transport verläuft unter kontinuierlicher manueller Inline-Stabilisierung (MILS) der HWS erfreulicherweise komplikationslos.
Blutdruck bei Eintreffen im Trauma-Zentrum : 105 / 60 mmHg , Puls 100 / Min SaO2 : 93 %
Im Klinikum kann der Patient durch den Anästhesisten der ZNA fiberoptisch endotracheal intubiert werden.
Die Open-Book-Beckenverletzung wird radiologisch bestätigt. Verletzungen von parenchymatösen Organen des Abdomens oder des Retroperitoneums sind im Spiral-CT nicht erkennbar; erstaunlicherweise auch keine massivere Einblutung in den Subperitonealraum. Die Open-Book-Verletzung mit frakturverdächtiger Aufhellungslinie auch im Bereich des rechten hinteren Beckenrings (B1-Fraktur ohne Konturstufe / ohne Dislokation des hinteren Beckenrings) kann mit einem Fixateur externe suffizient stabilisiert werden. Zeitaufwändig erweist sich anschließend die ZMK-chirurgische Stabilisierung der festgestellten Unterkiefermehrfragmentfraktur mit Fraktur der beiden Prozessus maxillares.
Bei Hb-Wert von 6,8 g/dl erfolgt die Gabe von mehreren Erythrozytentransplantaten. Der weitere intensivmedizinische Verlauf ist komplikationslos. Eine Extubation des Patienten ist am 3.postoperativen Tag möglich. Der 72-jährige Mann kann nach 5 -tägiger Intensivüberwachung auf die periphere Station
verlegt werden. Nach knapp 6-wöchigem stationären Aufenthalt kann bei dem Patienten das Osteosynthesematerial entfernt werden. Anschließend wird eine stationäre AHB-Maßnahme eingeleitet.
Fazit : Der zügige Transport des Patienten bei instabilem Beckentrauma (mit Verlagerung der absehbar schwierigen Atemwegssicherung bei komplexer Kieferfraktur in die Klinik) hat sich im vorliegenden Fall als richtige Entscheidung für das letztendlichh gute Outcome des älteren Patienten erwiesen.
Dr. Gerrit Müntefering
Arzt für Chirurgie / Unfallchirugie / Notfallmedizin
Lessingstr. 26