Fall des Monats Januar 2020

Alarmierungsmeldung am Montag 23:40 Uhr:

55-jähriger Patient mit Verwirrtheitszustand

Situation vor Ort und Anamnese:

RTW und NEF treffen fast zeitgleich an der Einsatzstelle ein  (Einfamilienhaus in Ortsmitte einer Kleinstadt).

Die Ehefrau des Patienten führt das Rettungsteam ins Schlafzimmer.

Die Ehefrau berichtet, dass bei ihrem Mann vor ca. 7 Monaten ein AEG-Karzinom festgestellt und operiert worden sei. (AEG steht für Adenokarzinom des ösophagogastralen Übergangs). Es sei eine Ösophagusresektion mit anschließendem Magenhochzug durchgeführt worden. Bei der perioperativen Staging-Diagnostik seien 2 pulmonale Metastasen nachgewiesen worden. Daraufhin sei eine Chemotherapie eingeleitet worden. Im heutigen Tagesverlauf sei nun gegen Mittag der 3. Chemotherapiezyklus beendet worden mit über einen Port applizierter 24-stündiger Zytostase. Gegen Nachmittag sei bei dem Patienten dann eine Temperaturerhöhung bis 39 °c eingetreten mit kurzzeitigem Schüttelfrost. Der 55-jährigen Mann sei daraufhin am frühen Abend zu Bett gegangen. Seit ca. 40 Minuten seien nun zunehmende Unruhezustände und Verwirrtheitszustände des Patienten auffällig geworden. Eine sinngebende Kommunikation war zu diesem Zeitpunkt nicht mehr möglich. Daraufhin habe die Ehefrau bei der Rettungsleitstelle angerufen.

Befund:

Der 55-jährige Mann wird im Bett liegend angetroffen. Es ist eine leichte Bewegungsunruhe des  Patienten erkennbar. Arme und Beine werden dabei seitengleich bewegt. Auf Ansprache reagiert der Patient mit kurzzeitiger Kopfwendung zur Geräuschquelle. Das Führen eines sinngebendes Gespräch ist nicht möglich. Es werden einzelne Worte ohne aktuellen Situationszusammenhang geäußert.

Der Patient lässt allerdings eine vom Rettungsteam vorangekündigte Überprüfung der Vitalparameter zu.

Erstbefund:

Blutdruck 140/90 mmHg Puls 105/min mit rhythmischer Herzaktion,

Sauerstoffsättigung 96%

Blutzucker 140 mg%.

Temperatur mit dem Ohr-Thermometer 38,8°.

Augenöffnung spontan. Pupillen beidseits mittelweit. Reaktion auf Licht und Konvergenz prompt.

Die Artikulation des Patienten ist auch weiterhin nicht situationsadäquat und teilweise schwer verständlich.

Der 55-jährige Mann versucht dann plötzlich, sich im Bett aufzurichten und äußert nachvollziehbar Harndrang.  Der Transfer Liegen-Sitzen-Stand ist dann ohne Fremdhilfe möglich mit relativ flüssiger Bewegungsabfolge. Eine Standunsicherheit ist nicht erkennbar. Ohne Hilfestellungen der Anwesenden zuzulassen, greift er nach einer leer stehenden Mineralwasserflasche und uriniert in die Flasche.

Auch weiterhin fortbestehende Unruhezustände des Patienten. Mittlerweile ist der Tragestuhl des RTW’s in die Wohnung geholt worden. Der Notarzt versucht, den Patienten von der Notwendigkeit einer weiteren Befundklärung in der Klinik zu überzeugen. Das Angebot des Rettungsteams, den Patienten mit dem Tragestuhl sicher zum RTW zu bringen, stösst auf deutlichen Widerstand des Mannes. Der Patient legt sich wieder ins Bett.

Weiteres Procedere?

Dr. Gerrit Müntefering

Arzt für Chirurgie / Unfallchirurgie / Notfallmedizin

Lessingstr. 26

47445 Moers

6 thoughts on “Fall des Monats Januar 2020

  1. Klinisch präsentiert sich ein deliranter fieberhafter Patient unter Chemotherapie.
    Formal qSOFA mindestens 1 (Angaben zur Atemfrequenz fehlen), zwei von vier SIRS-Kriterien sind erfüllt.
    Die präklinische Diagnostik kann noch um EKG und Atemfrequenz erweitert werden, ggf. BZ Kontrolle. Eine weitere klinische Abklärung (Sepsis, Fokus, Medikamenten-NW, Intoxikation, intrazerebrale Pathologie) erscheint dringend erforderlich. Möglicherweise ist eine Kontaktaufnahme mit dem behandelnden Onkologen oder Hausarzt möglich, um das weitere Procedere besprechen. Gibt es eine Patientenverfügung bzw. Vorsorgevollmacht?
    Präklinisch therapeutisch kommt eine Volumengabe in Frage, je nach RD-Bereich auch bereits präklinisch Abnahme von Blutkulturen und Start einer antibiotischen Therapie. Weiterhin hämodynamisches Monitoring. Übernahme zumindest auf IMC.
    Aktuell erscheint der Patient nicht einwilligungsfähig. Vielleicht kann die Ehefrau ihn zum Mitkommen bewegen, möglicherweise kann der Patient auch (ggf. mit Unterstützung) selbst zum RTW laufen, wenn ihm der Tragestuhl nicht behagt. Prinzipiell denkbar wäre möglicherweise auch eine milde Sedierung.

  2. Zum Fall des Monats Januar 2020:

    Im Diskussionsforum hat Katrin bereits eine weitere klinische Abklärung (Sepsis, Fokus, Medikamenten-NW, Intoxikation, intrazerebrale Pathologie) für dringend erforderlich gehalten. Ein beginnend septisches Geschehens ist auch vom hier involvierten Notarzt in Erwägung gezogen worden.
    Katrin hat aber auch die Differentialdiagnose der intrazerebralen Pathologie auf die Abklärungsliste gestellt.

    Weiterer Verlauf des Fall des Monats Januar 2020:

    Der Notarzt weist die Ehefrau des Patienten nachdrücklich darauf hin, dass aufgrund der hier vorliegenden unklaren Verlaufsentwicklung im engen Zusammenhang mit der vorangegangenen Chemotherapie eine stationäre Abklärung unbedingt erforderlich sei.
    Die Ehefrau des Patienten informiert daraufhin telefonisch ihre Tochter, die als niedergelassene Fachärztin tätig ist. 10 Minuten nach Telefonat ist die Tochter in der Wohnung der Eltern anwesend. Nach Fallschilderung kann die Tochter erfreulicherweise einen kommunikativen Zugang zum Vater finden und ihn auch von der Notwendigkeit der stationären Diagnostik überzeugen.

    Daraufhin Ansteuern einer Klinik mit neurologischer Fachabteilung. Der Transport des Patienten verläuft komplikationslos.

    Die stationäre apparative Diagnostik ergibt überraschenderweise ein ausgedehnteres subdurales Hygrom fronto-biparietal. Als subdurales Hygrom bezeichnet man eine Ansammlung von Liquor cerebrospinalis im Subduralraum. Subdurale Hygrome entstehen zumeist nach einer Verletzung der Arachnoidea im Rahmen eines Schädel-Hirn-Traumas. Es tritt Liquor in den Subduralraum ein und kapselt sich aufgrund des Ventilmechanismus der eingerissenen Arachnoidea zystisch ab. Man spricht in diesem Zusammenhang auch von einem posttraumatischen subduralen Hygrom. Kleine subdurale Hygrome können asymptomatisch sein oder mit leichten Kopfschmerzen einhergehen. Ausgeprägtere Formen führen zu einer Verdrängung des Hirngewebes und zu neurologischen Ausfällen. Ein Verlust von Liquor cerebrospinalis bei der traumatischen Form kann sich in plötzlichem Auftreten von Kopfschmerzen, Verwirrtheit und auch Lethargie äußern.

    Im aktuellen Fall konnte die Ehefrau des Patienten – auf gezielte Nachfrage des Klinik-Neurologen – über ein Sturzereignis ihres Mannes berichten, dass sich ca. 14 Tage zuvor ereignet hatte aber vom Ablauf her nicht gravierend gewesen sei. Aufgrund der kaum erkennbaren Unfallfolgen war eine Arztkonsultation mit weiterer Diagnostik nach dem Sturz nicht erfolgt.
    Die Verwirrtheitszustände des Patienten, die zum Notarzteinsatz führten, können im nachhinein ursächlich dieser subduralen Hygrombildung zugeordnet werden.

    In einem sofort eingeleiteten neurochirurgischen Konsil wurde die stationäre Übernahme des Patienten in die Nachbarklinik empfohlen zur engmaschigen Verlaufsbeobachtung und – verlaufsabhängig – auch zum zeitnahen Entlastungseingriff. Die Verlegung des Patienten wird daraufhin zeitnah eingeleitet
    Eine relevante Erweiterung der inneren Liquorräume oder ein Nachweis eines erhöhten intraventrikulären Drucks mit Indikation zur invasiven neurochirurgischen Entlastung traten aber im weiteren Verlauf glücklicherweise nicht auf.
    Eine neurochirurgische Entlastungsoperation ist im Verlauf der 10-tägigen neurochirurgischen Überwachungsphase nicht erforderlich geworden (wobei die maligne metastasierte Tumorerkrankung möglicherweise auch eine Rolle gespielt haben könnte).
    Der Patient kann nach 12 Tagen aus der stationären Behandlung entlassen werden.

    Dr. Gerrit Müntefering
    Arzt für Chirurgie / Unfallchirurgie / Notfallmedizin
    Lessingstr. 26
    47445 Moers

  3. Und was war der Grund des Fiebers? Kann sein, dass war das Fieber/Infekt, den deliranten Zustand verursacht hat und dass der Hygrom nur ein Zufallsbefund ist? Der Beweis ist, dass der „Eine relevante Erweiterung der inneren Liquorräume oder ein Nachweis eines erhöhten intraventrikulären Drucks mit Indikation zur invasiven neurochirurgischen Entlastung traten aber im weiteren Verlauf glücklicherweise nicht auf“. Der Patient sei nach 12 Tagen entlassen worden. Also, der Hygrom dann blieb wie sie ist. Ich gehe davon aus, dass der Patient nach den 12 Tagen Fieber/Infekt-frei war und nicht Hygrom-frei.

    Was denken Sie?

  4. Sehr geehrter Herr Hijazeen !

    Der Grund der Temperaturerhöhung wurde auch im Rahmen der stationären Behandlung – bei anfangs wohl nur geringer erhöhten und rasch rückläufigen Entzündungslaborparametern – nicht weiter geklärt. Zeitnah nach einer Chemotherapie und bei nachvollziehbarer Lungenfunktionsstörung durch pulmonale Metastasen wären auch hier Zusammenhänge denkbar. Das Fieber mit Temperaturen bei 39 ° kann natürlich auch für den deliranten Zustand verantwortlich sein, der allerdings von den Klinikärzten doch eher der Hygrombildung zugeordnet wurde.

    Mit freundlichem Gruß

    Gerrit Müntefering

  5. Die Klinikärzte haben den Patienten mit dem Hygrom entlassen (was nicht schlimm ist, eine operative Behandlung ist nicht immer notwendig). Also, der Hygrom hat sich nach 12 Tagen kaum geändert (keine frischen Anteile sind im CT beschrieben worden, und so schnell kann die nicht resorbiert werden). Deswegen kann nicht nachvollziehen, wie ein möglicherweise anhaltender Befund eine akute Verschlechterung verursacht und 12 Tage später ohne jegliche Behandlung nicht mehr.

    Es bleiben das Fieber, die Chemotherapie und der Infekt (egal wovon), was nicht mehr vorhanden waren.

  6. Sehr geehrter Kollege Hijazeen !

    das genauere therapeutische Procedere in der klinischen Behandlungsphase von Notfallpatienten ist durch den erstbehandelnden Notarzt bekannterweise sehr häufig nur unter großen Schwierigkeiten zu erfahren.
    In diesem Fall war der klinische Verlauf bei telefonischer Fallrecherche durch den erstbehandelnden Notarzt zumindest grob rekonstruierbar. Entsprechende Diagnostik – und Therapiemaßnahmen sind im klinischen Behandlungsverlauf anzunehmen, die die Entlassung des Patienten 12 Tage später ermöglicht haben.
    Weitergehende Informationen waren im aktuellen Fall aufgrund des allen bekannten Datenschutzes wieder einmal nicht zu erhalten gewesen.

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert