Fall des Monats Mai 2018

Alarmierungsmeldung:

weibliche Person mit Tablettenintoxikation

Situation vor Ort und ältere Vorgeschichte der Patientin :

Das NEF trifft 3 min nach dem RTW am Einsatzort ein (Einfamilienhaus in Dorfmitte). Die RTW-Besatzung ist gerade im Begriff, eine 38-jährige Frau aus der Wohnung zu führen, die dann aber eine zunehmende Abwehrhaltung gegen den Transfer in den RTW zeigt. Die vor Ort anwesenden Eltern der Patientin werden vom Notarzt zur Vorgeschichte Ihrer Tochter befragt:

Sie berichten, dass ihre Tochter erhebliche Alkoholprobleme habe. Der tägliche Alkoholkonsum betrage zeitweilig bis zu zwölf Flaschen Bier pro Tag. Die Eltern berichten außerdem über depressive Stimmungslagen und über bereits mehrfache Suizidversuche ihrer Tochter in den vergangenen Jahren. Auch ein Drogenkonsum habe vor einigen Jahren therapiert werden müssen, mit nicht eindeutig zu bestätigender Drogenabstinenz in der Folgezeit.

Aktuelle Vorgeschichte :
Die Eltern der 38-jährigen Patientin teilen weiterhin mit, dass ihre Tochter nach einem Vergewaltigungsversuch vor ca. einer Woche erneut erhebliche psychische Probleme entwickelt habe, die auch Anlass zu einer ambulanten Vorstellung in der Ambulanz einer psychiatrischen Klinik gewesen sei. Eine angebotene stationäre Behandlung sei aber von der Patientin abgelehnt worden. Vom  Hausarzt seien der Patientin dann Doxepin-Tabletten (100 Tbl.-Packung ) rezeptiert worden. Vor ca. 20 min haben die Eltern ihre Tochter nun in einem zunehmend somnolenten Bewusstseinszustand vorgefunden. Auf dem Tisch habe die Medikamentenschachtel mit den Doxepin-Tabletten gelegen, wobei rasch erkennbar wurde, dass ettliche Tabletten fehlten. Die Patientin sei gerade im Begriff gewesen, 7 Tabletten zu schlucken. Die Ingestion der Tabletten konnte jedoch gerade noch rechtzeitig durch die Eltern verhindert werden. Daraufhin sofortige Alarmierung des Rettungsdienstes aufgrund des angenommenen Suizidversuches mit Tabletten.

Erstbefund:
Die 38-jährige Patientin muss zunächst mit mäßiger Handanlage der Rettungsassistenten in den RTW gebracht werden. Im RTW ist dann eine rasch zunehmender Somnolenz der Patientin erkennbar, die nun keinen Widerstand mehr gegen die Erstversorgung leistet.

Bei der orientierenden Erstuntersuchung deutlicher Foetor alkoholicus. Blutdruck 100 / 70 mmHg .Puls 144 / Minute. Rhythmische Herzaktion. Pulsoxymetrie: SaO2  93 %

Nach Lagerung der Patientin auf der RTW-Trage ist keine Spontanmotilität der Extremitäten erkennbar. Es finden sich aber noch geringe Reaktionen auf periphere Schmerzreize. Bei Durchsuchung der Wohnung durch die Rettungsassistenten wird die Schachtel mit den Doxepin-Tabletten gesichert. Es fehlen insgesamt 20 Tabletten Doxepin 25 mg. Unter Berücksichtigung der von den Eltern aservierten sieben Tabletten ergibt sich eine maximal eingenommene Tablettendosis von 13 Tabletten (das entspräche einer Dosis von 325 mg Doxepin) . Weitere Tablettenschachteln oder Blister werden nicht gefunden. Über das Ausmaß des heutigen Alkoholgenusses ihrer Tochter kann von den Eltern keine Angabe gemacht werden.

Erstmaßnahmen :
Anlage eines intravenösen Zugangs am Handrücken.
Blutzucker-Stix: 115 mg /dl.
Die 12-Kanal-EKG-Ableitung zeigt eine Sinustachykardie mit schmalen Kammerkomplexen. Frequenz bei 140 – 150 Aktionen / Minute ohne Arrhythmie. ( Die EKG-Ableitung ist leider abhanden gekommen)
Bei der erneuten Vigilanzprüfung zeigen sich nur geringe Reaktion der Patientin auf Schmerzreize (auch bei stärkeren Reizen im Sternumbereich).
Muskeltonus der Patientin nun eher schlaff. Pupillen beidseits „eng“ mit nicht sicherer Lichtreaktion.

Nach telefonischer Kontaktaufnahme mit der Giftnotrufzentrale wird von dieser mitgeteilt, dass eine angenommene Aufnahme von 325 mg Doxepin bei einer ca. 70 kg schweren Patientin noch unterhalb der gefährlichen Dosis läge.  Eine perorale Kohle-Gabe sei nicht erforderlich. Allerdings sei eine zeitnahe Verlaufsbeobachtung im Krankenhaus unbedingt indiziert.

Daraufhin rascher Beginn des RTW-Transports in die nahegelegene Klinik mit freier Intensivbettenkapazität nach telefonischer Voranmeldung.

Während des Transportes Blutdruckwerte um 105/ 60 mmHg, Herzfrequenz bei 130/Min leicht rückläufig. Sauerstoffsättigung bei 91 %.

Weitere Verlauf auf der Intensivstation in der  Klinik:
Nach Eintreffen in der Ambulanz des Krankenhauses wird vom Pflegepersonal  mitgeteilt, dass die 38 -jährige Patientin auf der RTW-Trage verbleiben soll und direkt auf die Intensivstation gebracht werden soll. Auf der Intensivstation eingetroffen , wird der diensthabenden Intensivmediziner vom Notarzt über Anamnese und den Erstbefund der Patientin informiert.

Vom Notarzt wird vorgeschlagen, ob zeitgleich zur Bestimmung des Alkoholspiegels ein Drogenscreening durchgeführt werden könne. Vom Intensivmediziner der Klinik wird daraufhin mitgeteilt, dass eine Bestimmung des Alkoholspiegels im hiesigen Krankenhaus grundsätzlich nicht erfolge und dass ein Drogenscreening nur in seltenen Fällen – nach Rücksprache mit dem Chefarzt – eingeleitet würde. Fälle wie den aktuellen (mit Somnolenz und ohne Handlungsanweisung durch die Giftnotrufzentrale) solle  man am Besten ausschlafen lassen.

Blutdruck weiterhin bei 100/60 mmHg  Puls bei 125/Min, Sauerstoffsättigung bei 90 %

Pupillen unverändert eng mit minimaler Lichtreaktion. Muskeltonus schlaff.

Patientin ist – nach wie vor – nicht erweckbar. Die Abwehrreaktion auf Schmerzreize ist gering.

Noch befindet sich die Patientin auf der RTW-Trage.

Weiteres Procedere ?

Dr. Gerrit Müntefering
Arzt für Chirurgie / Unfallchirugie / Notfallmedizin
Lessingstr. 26
47445 Moers

3 thoughts on “Fall des Monats Mai 2018

  1. Offensichtlich schon Indikation zur Intubation im RTW. Für die GNZ scheint die Vergiftung nicht so schwerwiegend zu sein und ein abwartendes Prozedere möglich. Nur weil der Intensivmediziner nicht sofort schon auf der Trage tätig wird, heißt das nicht, dass automatisch eine schlechte Versorgung in dem Haus die Folge ist. Insofern bei verpasster eigener Chance zur Atemwegssicherung alles gut dokumentieren, warum/wieso/weshalb und die Patientin der Obhut des Krankenhauses überlassen. Für gewöhnlich ist es üblich, dass nach Einlieferung einer Patientin mir dieser Art Mischintoxikation nochmals Kontakt zur einer GNZ seitens der Intensivstation aufgenommen wird, um das weitere Prozedere zu besprechen.
    Zu der wichtigen Frage der Schutzreflexe äußert sich der Text leider nicht. Darüber hinaus besteht auch immer noch die Möglichkeit einen Behandlungsversuch mit dem Antidot Physiostigmin zu unternehmen.

  2. Weiterer Verlauf des Mai-Falls 2018:

    Aufgrund der Äußerungen des diensthabenden Krankenhaus-Internisten wird -nach kurzer Fallbesprechung im Rettungsteam, der Entschluss zum Weitertransport der Patientin und Ansteuern der 10 Minuten weiter entfernt liegenden größeren Klinik gefasst, in der ebenfalls freie Intensivbetten gemeldet sind.
    Zu Transportbeginn unveränderte Werte der Vitalparameter (Blutdruck 100/60 mmHg, Puls bei 125/Min, Sauerstoffsättigung bei 90 %, erhaltene Schutzreflexe).Während des Transportes wird nochmals Rücksprache mit der Giftnotrufzentrale gehalten.
    Eine vom Notarzt imTelefonat nochmals zur Diskussion gestellte Behandlungsoption mit Physiostigmin (bei Intoxikation mit trizyklischen Antidepressiva) wird vom diensthabenden Kollegen der GNZ als präklinische Therapiemöglichkeit bestätigt, allerdings mit Hinweis auf eine titrierende i.v.Applikation.

    Nach langsamer intravenöser Verabreichung von 1 Ampulle Physiostigmin zeigt sich erfreulicherweise eine Besserung der Vigilanz der Patientin und eine leichte Abnahme der Tachykardie auf Werte um 100-110 / Min. Die Patientin reagiert auf laute Ansprache nun wieder gerichtet.

    Die Patientin kann in gebessertem Zustand auf der Intensivstation der angesteuerten Klinik aufgenommen werden.
    Unter intensivmedizinischer Überwachung weitere Besserung des Allgemeinzustandes. Der Alkoholspiegel liegt zum Zeitpunkt der Aufnahme bei 2,7 Promille.
    2 Tage nach Beginn der intensivmedizinischen Versorgung kann die Versicherte in gutem Allgemeinzustand und – angabegemäß motiviert zur Verhaltensänderung – in eine psychiatrische Klinik verlegt werden.

    Dr. Gerrit Müntefering
    Arzt für Chirurgie / Unfallchirurgie / Notfallmedizin
    Lessingstr. 26
    47445 Moers

  3. Wie ich finde, eher ungewöhnliches Vorgehen bei vorhandener Intensivkapazität. Vermutlich lagen schon schlechte Erfahrungen aus der Vergangenheit vor, dass sich so entschieden wurde ??

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