Fall des Monats August 2022

Alarmierungsmeldung am Freitag 19:00 Uhr:

Hilfeleistung für den Nachbarbezirk „Nicht ansprechbare Person – vermutlich Ex“

Neue Information während der Anfahrt:

Auf der 14 -minütigen Anfahrt des NEF kommt die Information vom gerade eingetroffenen RTW des Nachbarbezirks:  „vermutlich Apoplex“

Situation vor Ort:

Beim Betreten des Schlafzimmers in einer Erdgeschoßwohnung bietet sich folgendes Szenario:

Im Ehebett liegen 2 Personen.  Am Fenster eine schon aus der Distanz als tot zu vermutende ca. 80-jährige Frau. Daneben liegt ein somnolenter Mann etwa gleichen Alters, bei dem die RTW-Besatzung mit der Erstversorgung begonnen hat:  RR  140/85 mmHg, Pulsfrequenz 76, rhythmisch, Sauerstoffsättigung. 94% Die EKG-Ableitung zeigt einen Sinusrhythmus, Indifferenztyp ohne weitere Auffälligkeiten.

BZ-Stix :110 mg/dl.

Die kurze Inspektion der Frau durch den Notarzt zeigt sichere Todeszeichen (voll ausgebildete Leichenstarre), so dass er sich sofort dem Mann und den anwesenden Angehörigen widmen kann.

Informationen zur Vorgeschichte:

Die Alarmierung ist durch die Kinder des Ehepaars erfolgt. Sie berichten, der Mann habe seine seit 10 Jahren pflegebedürftige, an Alzheimer erkrankte und zuletzt nur noch bettlägerige Frau selbst versorgt.

Sie hatten am Vortag nachmittags noch mit ihrem Vater telefoniert, es sei soweit „alles in Ordnung“ gewesen. Der Vater sei auch, abgesehen von einem länger bekannten„Verschleiß des Rückens“ mit regelmäßig auftretender Schmerzsymptomatik eigentlich immer gesund gewesen.

Heute Nachmittag habe der Vater sich am Telefon nicht gemeldet, deshalb hatten die Kinder die Wohnung aufgesucht, zu der sie einen Schlüssel besaßen.

Dann hatten sie die Eltern regungslos im Bett liegend vorgefunden.

Auf den Nachttischen finden sich an Medikamenten Urologika und NSAR, jeweils angebrochene Packungen. Ansonsten die übliche Pflegeutensilien für die Ehefrau.

Notärztlicher Erstbefund:

Der Patient ist somnolent, öffnet aber gelegentlich die Augen auf energische Ansprache, gibt dysarthrisch-lallende, kaum verständliche Äußerungen von sich. Keine motivierbaren Eigenbewegungen der Extremitäten. Die durch Schmerzreize auslösbaren Abwehrbewegungen scheinen links etwas schwächer zu sein als rechts.

Pupillen mittelweit, isokor, Reaktion auf Licht und Konvergenz leicht verzögert. Keine äußeren Verletzungszeichen. Kein Foetor alkoholicus, kein Acetongeruch. Hautverhältnisse unauffällig. Babinski negativ. Auch kardiopulmonal kein pathologischer Untersuchungsbefund. Keine peripheren Ödeme

 

Weiteres Procedere?

 

Arbeitsdiagnose?

 

Dr. Gerrit Müntefering
Arzt für Chirurgie / Unfallchirurgie / Notfallmedizin
Lessingstr. 26
47445 Moers

4 thoughts on “Fall des Monats August 2022

  1. Hallo, Interessante Konstellation mit initial 2, sekundär 1 Patienten. Eigentlich bislang fitter 80-Jähriger. Neurologisch CGS 8, Kreislaufstabil. CO??, Wohnungscheck Heizung Gasgeruch.
    DD des Ehemannes:
    a) Apoplex, (ICB)
    b) Intox (Gas? gemeins. Suizid?, vielleicht etwas weit hergeholt, aber kommt ja mal vor, Pupillen nicht wegweisend, Medikamente vor Ort eher nicht so toxisch…)
    c) Trauma (in der Untersuchung aber keine Prellmarken/Verletzungen) bei der Versorgung
    d) Schock (Exsikkose (Haut unuaffällig), Fieber??), Sepsis.
    –> CT, Stroke-Verdacht, Drogenscreening, Laktat, BGA

    Liebe Grüße

  2. Ich habe ähnliche Gedanken wie Frank.
    Suizid (erweiterter oder einfacher nach natürlichem Versterben der Ehefrau) steht definitiv im Raum. Wie ist denn die Auffindesituation, irgendwie inszeniert? Gibt es einen Brief? Eine zeitgleiche Intox (egal, ob akzidentell oder intendiert) scheint mir wegen des stark unterschiedlichen Verlaufs eher unwahrscheinlich (Frau schon mit Rigor, Mann nur bewusstlos).
    Auch ein primär zerebraler Prozess (Apopolex, ICB) ist gut möglich. Womöglich könnte es auch eine extreme psychische Reaktion auf den Tod der Ehefrau sein.

  3. Hallo zusammen,
    tatsächlich liegen hier alle Optionen auf dem Tisch, die bereits genannt wurden. Die CO-Intoxikation ist eine durchaus denkbare Ursache. Ähnliche Fälle mit Überleben einzelner Patienten durch im Detail doch unterschiedliche Expositionsbedingungen wurden mehrfach berichtet. Cave: Der nicht ausgelöste CO-Warner schließt diese Diagnose nicht aus. DIe CO-Freisetzung kann inzwischen beendet und die Konzentration in der Raumluft wieder abgesunken sein. Gewissheit bringen CO-Hb und BGA.
    Danke für den interessanten Fall!

    Liebe Grüße

  4. Steffi, Frank und Andreas haben bereits die relevanten Verdachtsdiagnosen angesprochen. Die CO-Melder des Rettungsteams haben allerdings nicht ausgelöst Beim Wohnungscheck : Kein Kohleofen, keine Gasheizung. Ein Abschiedsbrief ist nicht zu finden. Keine Tablettenblister in den Schubläden der Nachtschränke oder im Papierkorb des Schlafzimmers oder der Küche.
    Unter der Arbeitshypothese „Ischämie/ ICB “ wird der Patient nach Anlegen eines venösen Zugangs unter Infusion von Ringer-Lösung, O2-Gabe mit 4l/ Min und Monitoring von EKG, RR und Sauerstoffsättigung in eine Klinik mit neurologischer Abteilung und CT transportiert.
    Komplikationsloser Transport.

    Von der Leitstelle kann schließlich auch der Hausarzt erreicht werden, der sich zur Durchführung der Leichenschau bei der verstorbenen Frau und dem Ausstellen der Todesbescheinigung bereiterklärt und zusagt, sofort zur Wohnung zu fahren.

    Dem NA ist die weiterhin etwas wechselnde Vigilanz und inkonstante „Hemiparese“ suspekt und bestellt zur Aufnahme nicht nur den Neurologen, sondern auch den Internisten.
    Kurze Zeit nach der Aufnahme klart der Mann etwas auf, man kann die Worte „Badezimmer“ verstehen.

    Der noch anwesende Notarzt schöpft einen vagen Verdacht und telefoniert daraufhin mit dem gerade in der Wohnung befindlichen Hausarzt, der das Badezimmer unter die Lupe nimmt.
    In einem kleinen Mülleimer des Badezimmers finden sich dann in einem Hygienebeutel Blisterpackungen von 30 Tabletten Lorazepam 1 mg (Benzodiazepin).

    Das Medikamenten-Screening in der Klinik bestätigt eine Benzodiazepin-Intoxikation und nach daraufhin spezifischer Antidot-Behandlung ist eine rasches Aufklaren und eine zeitnahe Zustandsverbesserung des Patienten feststellbar.

    Nach 1,5-tägiger Intensivmedizinischer Überwachung wird der Mann, der schlussendlich einräumt, die Lorazepam-Tabletten in suizidaler Absicht nach dem Eintritt des Todes seiner Frau eingenommen zu haben, konsiliarisch einem Psychiater vorgestellt. Der Facharzt kann in einem längeren Gespräch nun eine Distanzierung des Patienten von weiteren Suizidabsichten feststellen.

    Anmerkung: Eine subtile Untersuchung der Wohnung hätte eventuell eine rascheren Fall-lösung beitragen können, aber die Zeit ist bei Notarzteinsätzen meistens nicht gegeben.

    Dr. Gerrit Müntefering
    Arzt für Chirurgie / Unfallchirugie / Notfallmedizin
    Lessingstr. 26
    47445 Moers

Schreibe einen Kommentar zu Gerrit Müntefering Antworten abbrechen

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert