Fall des Monats Mai 2020

Alarmierungsmeldung Montag um 23:30 Uhr :

Angekündigter Suizid, männlich, Anfahrt ohne Sondersignal. Die Polizei sollte vor Ort sein. Ansonsten unbedingt auf die Polizei warten.

Situation am Einsatzort:

7 Minuten nach der Alarmierungsmeldung Eintreffen des NEF und des RTW ’s am Einsatzort. Mehrfamilienhaus in einer Kleinstadt.

Die Polizei ist noch nicht vor Ort.

Daraufhin nochmalige Abfrage evt. weiterer Informationen bei der Rettungsleitstelle. Von der Leitstelle können nur wenig beruhigende Auskünfte gegeben werden: Der Anrufer hätte seinen Suizid telefonisch angekündigt. Zeitgleich sei die Information der Polizei erfolgt. Der Anrufer ist bei den Ordnungshütern kein Unbekannter ( illegaler Waffenbesitz, zeitweilige Beherbergung eines Kampfhundes in der Wohnung).

Die Polizei trifft 2 Minuten später an der Einsatzstelle ein. Die Polizeibeamten des ersten Einsatzfahrzeugs warten aufgrund des möglichen Gefahrenpotentials noch auf Verstärkung. Vom Notarzt wird auf die Dringlichkeit des Zugriffs hingewiesen. Ein zweiter Einsatzwagen trifft nach weiteren 2 Minuten ein.

Die Wohnung des Notfallpatienten befindet sich im 3. Obergeschoss des Mehrfamilienhauses.

Nach Schellen bei den noch beleuchteten Wohnungen auf der Parterre-Ebene ist ein rascher Zugang der Beamten zum Treppenhaus möglich.

Nun Schellen der Beamten in der Wohnung des Anrufers unter Klarstellung des Polizei-Einsatzes. Der Notfallpatient öffnet die Wohnungstür. Kein Hundegebell. Ein Kampfhund wird nicht angetroffen.

 

Deutlich wankendes Gangbild des Patienten bei Foetor alkoholicus. Rotes, leicht aufgequollenes Gesicht, verwaschene Sprache.

Nun Abfrage des aktuellen Geschehens durch den Notarzt:

Der 40-jährige Mann berichtet leicht mit verwaschener und stockender Sprache, dass er jetzt mit allem Schluss machen wolle ! ( Dennoch ist aber eine demonstrative telefonische Vorankündigung des Suizidversuchs erfolgt ).

Der Mann gibt an, er habe die Tabletten von 2 Schachteln Ibuprofen, anderthalb Schachteln Paracetamol und 1 Schachtel Tavor geschluckt. Die Tablettenschachteln habe er bereits im zentralen Müllabwurfschacht des Mehrfamilienhausese entsorgt. Außerdem habe er mehr als eine halbe Flasche Möbelpolitur getrunken. Es steht eine zu 2/3 geleerte Flasche Möbelpolitur auf dem Wohnzimmertisch. Zur getrunkenen Alkoholmenge kann / will der Patient keine Angaben machen. Leere Tablettenblister finden sich nicht in der Wohnung.

Der Patient betont, dass er sterben will. Er ist auch bei der eingeleiteten Primärdiagnostik wenig kooperativ.

 

Erstdiagnostik und Erstmaßnahmen:

Ein Alkoholtest der Polizei ist bei Widerstand des Patienten nicht möglich.

 

Bei fortgesetztem Widerstand des Patienten und bestehender Vitalgefährdung wird der Mann von 3 Beamten überwältigt mit Handschellenanlage.

Der Transport aus dem 3. Obergeschoss gestaltet sich anfangs schwierig, kurze Zeit später ist der Widerstand des Patienten etwas geringer.

Eine Blutdruckmessung ist bei rückwärtiger Armfixierung möglich :

RR 150 / 90 mmHG , Puls 110 /Min.

Die pulsoxymetrische Bestimmung der Sauerstoffsättigung ist an den unruhigen Händen und bei Widerstand nicht durchführbar, ist aber am Ohr möglich

SaO2: 90 %

Die unter Schwierigkeit kurzzeitig realisierbare EKG-Ableitung ( Extremitäten-Ableitung ) zeigt einen zumindest orientierend unauffälligen Befund.

Ein intravenöser Zugang kann am proximalen Unterarm unter Schienen und Bindenfixierung gesichert werden.

 

Während des Transports zum 15 km entfernt gelegenen Krankenhaus mit Intensivbett und Dialyse-Möglichkeit, das laut Leitstelle nicht abgemeldet sei, erfolgt das Telefonat mit der Vergiftungszentrale einer nahegelegenen Uniklinik:

Nach Verbindungsaufbau soll rasch der Arztkontakt vermittelt werden. Nach 6 Minuten Warteschleife dann die Mitteilung des Pflegers, dass der Doktor notfallmäßig involviert sei und unabkömmlich sei. Man solle es in der Vergiftungszentrale Berlin versuchen.

 

Daraufhin sofortiger Telefon-Kontakt mit der Berliner Vergiftungszentrale :

Hier ist die Telefon-Verbindung aber zeitweilig sehr schlecht und wird einmal unterbrochen.

Die Ärztin der Berliner Vergiftungszentrale informiert über kurz über Petrodestillate, eventuell auch aromatische und halogenierte Kohlenwasserstoffe und Terpentinöl in Möbelpolituren und die hier mögliche Anwendung von Kohle pulvis  und paraffinum subliquidum ( pastösem Paraffinöl ). Ein Erbrechen des Patienten soll unbedingt verhindert werden. Die Frage der Berliner Ärztin nach der eingenommenen Paracetamol-Menge kann nicht gesichert beantwortet werden.

 

Eintreffen in der Notfallaufnahme :

Während dieses 2.Telefonats trifft der RTW in der Notfallanfahrt des Krankenhauses ein. Die diensthabende Internistin empfängt das Rettungsteam bereits vor der Tür des Schockraums und teilt mit, dass sie keinen freien Intensiv-Versorgungsplatz hätten und seit 1 Stunde abgemeldet seien. Hier sei offensichtlich eine Fehlinformation durch die Rettungsleitstelle erfolgt.

Daraufhin wird – auf Insistieren des Notarztes hin – der Hintergrunddienst der Abteilung angerufen und bestätigt am Telefon die Unmöglichkeit der Primärversorgung bei fehlendem Intensivbett.

 

Weiteres Procedere ?

 

Dr. Gerrit Müntefering
Arzt für Chirurgie / Unfallchirugie / Notfallmedizin
Lessingstr. 26
47445 Moers

4 thoughts on “Fall des Monats Mai 2020

  1. Der Patient hat durch die Ingestion von Petroldestillaten in der Möbelpolitur ein nicht geringes Risiko, eine schwere Pneumonie zu entwickeln. Zusammen mit der nicht näher zu erfassenden Mischintoxikation, insbesondere unter Beteiligung von Paracetamol benötigt der Patient mit Sicherheit ein Intensivbett mit Option zur Beatmung und würde auch von einer zügig realisierbaren toxikologischen Analytik profitieren. Damit empfiehlt es sich m.E., ein geeignetes Intensivbett zu suchen und den Patienten unmittelbar weiter zu transportieren. Die Kasuistik zeigt auch eindrücklich die personelle Situation vieler Giftinformationszentralen insbesondere außerhalb der Regelarbeitszeit. Durch die Länderzuständigkeit (§16e ChemG) bestehen in Deutschland derzeit 8 Giftinformationszentralen, von denen einige allerdings ohnehin schon nachts und an Wochenenden einen gemeinsamen Nachtdienst unterhalten. Der häufig praktizierte „Überlauf“ an den leistungsfähigen Giftnotruf Berlin ist ein Notbehelf, der durch das Land Berlin grundsätzlich abgelehnt wird.

  2. Man kommt wohl nicht umhin, einen neuen Therapieplatz zu suchen. ABER in dem Haus, in dem man aktuell steht, kann / sollte man bereits die Therapie beginnen, also ACC und den Vorschlägen der Giftzentrale. Das alles sollte ja zumindest im Schockraum der aktuell ablehnenden Klinik möglich sein. Damit könnte man zumindest etwas der leider vertanen Zeit wett machen.
    Das Problem der „Fehl-Leitung“ durch die „Leit-Stelle“ ist leider öfter, als einem lieb ist…

  3. Da gibt es sicher mehrere Aspekte, die zu berücksichtigen sind.
    Vorweg steht an erster Stelle das Wohl des Patienten, der es zumindest schon einmal bis in das jetzige Krankenhaus geschafft hat. Eine klinische Erstversorgung, ggf. dann Weiterverlegung MUSS auch diese Klinik darstellen können, auch wenn keine Weiterversorgungsmöglichkeit besteht.
    Aus meiner Sicht kommt hier, die oft zitierte aber nur in sehr wenigen Fällen gerechtfertigte Zwangsbelegung in Betracht.
    Begründung: Schnellstmögliche Medikation, die nicht im Rettungs-/Notarztdienst vorgehalten wird rettet möglicherweise diesen Menschen. Eine weitere Zeitverzögerung ist daher zunächst nicht hinnehmbar.
    Die Weiterverlegung und Bettensuche für die weitere intensivmedizinische Betreuung kann währenddessen organisiert werden.

    Ein Arzt-Arzt-Gespräch hätte das Problem schon vorher aufgedeckt!

    Ein weiterer Aspekt ist die Problematk der Giftnotrufzentralen, mit teilweise immensen Wartezeiten… In dieser Zeit habe ich auch nachgelesen oder bin in der Klinik. Hier wären neue wegweisende Ideen und auch eine entsprechende finanzielle Ausstattung äußerst wünschenswert. Funktioniert aus meiner Sicht nur, wenn dies aus dem normalen Dienstbetrieb eines Klinikums ausgegliedert wird…. Wie auch immer.

  4. Weiterer Verlauf des Mai-Falls 2020:

    Wie auch im Forum uni sono angesprochen , dürfte klar sein, dass es sich hier (entsprechend dem Kenntnisstand zur Lage) um eine vitale Bedrohung mit intensivmedizinischer Behandlungsbedürftigkeit handelt – ganz gleich, welche Menge Tabletten, Alkohol, Möbelpolitur oder sonstiges geschluckt worden sind.
    Zudem besteht eine nachvollziehbare Selbstgefährdung durch eine akute Psychose und somit – im Anschluss an die intensivmedizinische Akutversorgung – eine Indikation zur Unterbringung gemäß PsychKG.

    Die diensthabenden Ärzte der ZNA zeigten sich – in Anbetracht dieser Situation – dann zumindest sehr engagiert und kooperativ bei der Suche nach einem geeigneten intensivmedizinischen Behandlungsplatz. Eine aufnahmebereite Klinik in akzeptabler Nähe ( Fahrzeit von Klinik zu Klink unter 10 Minuten) konnte innerhalb weniger Minuten gefunden werden. Eine toxikologische Analytik wäre – bei fortbestehendem Widerstand des Patienten – auf die Schnelle schwierig und nur unter starker Sedierung des Patienten durchführbar gewesen, so dass nach der erfreulicherweise raschen Klärung der zukünftigen stationären Intensivversorgung, ein Weitertransport zügig möglich war. Die Zielklinik wurde während des Transports umfassend über die vorliegende Problematik vorinformiert, so dass man zur Intensivstation durchmarschieren konnte.
    Das anschließend unter Sedierung eingeleitete toxikologische Screening ergab dann allerdings Medikamentenspiegel, die deutlich unter der vom Patienten mitgeteilten Ingestionsdosen lagen. Auch die aufgenommene Menge der Petrodestillate dürfte – nach Angaben der Intensivmediziner am Folgetag – eher gering gewesen sein. Der Alkoholspiegel wurde allerdings mit 1,9 Promille bestimmt.
    Der Patient konnte nach 3-tägiger Überwachung auf der Intensivstation in die psychiatrische Weiterbehandlung verlegt werden.

    Dieser Fall zeigt die leider nicht so seltene Problematik mit den Vergiftungszentralen auf, die wirklich oft personell schlecht besetzt sind. Der Fall wäre aber auch ein gutes Beispiel für den effektiven Einsatz der bekannten Software und App zum Bettennachweis, die immer beliebter wird.

    Dr. Gerrit Müntefering
    Arzt für Chirurgie / Unfallchirugie / Notfallmedizin
    Lessingstr. 26
    47445 Moers

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