Fall des Monats November 2019
Alarmierungsmeldung am Samstag-Morgen um 07:10 Uhr:
Nicht ansprechbare weibliche Person, Alter 47 Jahre
Situation vor Ort und Vorgeschichte der Patientin:
Das NEF trifft 5 Minuten nach Alarmierung ungefähr zeitgleich mit dem RTW am Einsatzort ein (Einfamilienhaus in Dorfmitte). Der Ehemann führt die Ersthelfer in die Wohnung . Eine 47-jährige leicht übergewichtige Frau wird in der Küche in Linksseitenlage liegend aber wieder ansprechbar vorgefunden.
Bei Feuchtigkeit auf dem Küchenboden im Beckenbereich der Notfallpatientin kann die Frau mitteilen, dass es zu einem Harnabgang gekommen sei. Die kontaktfähige Frau versichert, dass sie diesen Urinabgang bemerkt habe.
Die 47-jährige Frau kann dem Notarzt zum Ereignishergang berichten, dass es ihr nach dem morgendlichen Aufstehen in der Küche plötzlich schwarz vor Augen geworden sei. Der Ehemann teilt mit, dass er seine Frau anschließend regungslos in der Küche auf dem Boden liegend vorgefunden habe. Es seien keine Verkrampfungen und kein Zucken der Extremitätenmuskulatur zu beobachten gewesen, auch keine auffälligen Streckbewegungen der Extremitäten und keine forcierte Atemaktionen. Keine Zyanose. Die Patientin sei für ca. 5 Minuten nicht ansprechbar gewesen.
Befragt zu Vorerkrankungen berichtet die Patientin, dass sie aufgrund einer depressiven Stimmungslage nach Todesfall in der Familie seit 1 Jahr Fluoxetin einnehme. Aufgrund einer seit mehreren Jahren bekannten Pollinosis saisonalis mit pulmonaler Mitbeteiligung und seit 3 Tagen aufgetretener mäßiger Kurzluftigkeit sei sie vorgestern bei ihrem Hausarzt gewesen. Der Pollenflug sei seit einigen Tagen sehr stark gewesen. Der Hausarzt habe ihr daraufhin zur Einnahme eines Antihistaminikums (Levocetirizin) geraten.
Weiterhin berichtet die 47-jährige Frau, dass ein Langzeit-EKG vor ca. einem Jahr, das aufgrund von fraglichen Palpitationen angefertigt worden sei, keinen behandlungsbedürftigen Befund ergeben hätte. Eine EKG-Ableitung vor 4 Monaten aufgrund eines kurzzeitigen thorakalen Druckgefühls habe ebenfalls keinen pathologischen Befund ergeben.
Erstbefund:
47-jährige Frau, orientiert und kooperativ. Keine zentrale oder periphere Zyanose. Atmung regelrecht bei 12 / Min.. A.radialis-Puls mit leicht erhöhter Frequenz gut tastbar. RR 130/ 70 mmHg, Puls 105 / Min. SaO2: 95 %
BZ-Stix: 158 mg/ dl.
Glasgow-Coma-Scale bei 15. Bei der Untersuchung des Kopfes wir ein kleinflächiges Hämatom über dem linken Kiefergelenks erkannt. Kein Zungenbiss.
Wirbelsäule orientierend unauffällig. Thorax, Abdomen und Beckenregion und Extremitäten ohne Traumabefund.
Erstmaßnahmen:
Ein intravenöser Zugang wird gelegt mit kristalloider Lösung. Bei leichter Übelkeit der Patientin erfolgt die intravenöse Gabe eines Antiemetikums (Kein Antihistamikum)
Das abgeleitete 12-Kanal-EKG ergibt den nachfolgenden Befund :
Es wird der Transport in eine Klinik mit kardiologischer und neurologischer Abteilung vorbereitet.
Bei kurzem unterstützten Aufrichten des Oberkörpers der Patientin kommt es dann zu einer erneuten Bewusstseinstrübung der Patientin, wobei hierbei auch ein erhöhter Muskeltonus der oberen Extremität feststellbar wird.
Die Bewusstseinstrübung dauert ca. 10 Sekunden. Die Patientin ist anschließend wird wach, ansprechbar und zufriedenstellend orientiert und kardiopulmonal stabil.
RR 120 / 70 mmHg Puls 105 / Min SaO2: 92 %
Während des Transports in die oben genannte Klinik dann unauffälliger Verlauf.
Beim Umlagern der Patientin von der Trage auf die Untersuchungsliege mit assistiertem Aufrichten des Oberkörpers kommt es dann allerdings zu einer erneuten Bewusstseinstrübung der Patientin, die sich den nicht sicher genug fixierten i.v. Zugang dabei entfernt.
Verdachtsdiagnose ?
Dr. Gerrit Müntefering
Arzt für Chirurgie / Unfallchirugie / Notfallmedizin
Lessingstr. 26
47445 Moers
Long QT Syndrom (EKG verzittert) mit kurzfristiger HRST oder Medikamenten induzierte Krampfanfälle, sowohl Antihistaminika als auch Fluoxetin können Krampfanfälle auslösen
Die QT-Zeit sieht nicht verlängert aus (ca. 300ms). Auch hätte man ja irgendeine Form von Herzrhythmusstörung während des „Anfalls“ am Monitor sehen müssen.
Die schnelle „postiktale“ Reorientierung spricht eher gegen einen epileptischen Anfall. Dafür spricht aber die Enuresis.
Die Vorgeschichte (Depression) und der Umstand, dass sie noch einen erhöhten Muskeltonus beim Umfallen hat, spricht a.e. aber für einen psychogenen Anfall.
Man wird im Krankenhaus trotzdem alle Untersuchungen machen müssen und erst wenn man nichts findet, würde man sie auch auf ihre psychische Situation ansprechen.
Differentialdiagnosen
(bin noch Student)
Lungenembolie, angeborener Herzfehler ?
Die Patientin wird nur einige Minuten nach Ereignis mit GCS 15 vorgefunden
Einen Krampfanfall würde ich somit für wenig wahrscheinlich halten
offene Fragen noch zur Anamnese.:
-> Wer ist in der Familie vor einem Jahr gestorben und Warum? Schwere Erkrankungen bekannt?
-> Der gemessene BZ von über 150 : nüchtern oder nach dem Frühstück ? -> Diabetes bekannt?
-> Wie erfolgreich ist die Behandlung ihrer Depression ? Ist die Patientin eventuell stark antriebslos und sitzt und liegt hauptsächlich den Tag über ?
-> raucht die Patientin ?
Auskultationsbefund?
Warum ist die SaO2 92% und 95% aber keine 97-98% ?
War die Kurzatmigkeit der letzten 3 Tage wirklich Ausdruck einer Allergie ? Hat das Citerezin überhaupt geholfen?
Warum synkopiert die Pat. bei Aufrichten des Oberkörpers ?
Frage: Wie sieht die cQT-Zeit aus? Wie hoch ist das Fluoxetin dosiert, wie hoch das Levociterizin? Beobachtete Auffälligkeiten im EKG beim aufrichten?
Ich würde mich jetzt nicht direkt auf das aufrichten einschießen… eventuell eher die Kombi der beiden Präparate (Potenzierung) und eine QT-Zeit Verlängerung mit einhergehenden Torsade-de-Pointe Attacken.
Bin aber auch kein Arzt, daher: 🤷🏼♂️
Edit: Unerkannt Schwanger (leicht adipös)? -> Gestinationsdiabetes? Vena Cava-Kompressionssyndrom?
Noch ergänzend zu meinem vorigen Kommentar: Roemheld Syndrom als Auslöser für eventuelle Extrasystolen mit Torsades-de-Pointes in Verbindung mit verlängerter cQT-Zeit aufgrund der Kombination Antihistaminika und Antidepressiva. Aber wie gesagt: Ich bin kein Arzt.
Ich tippe auf ein ACS bei Hauptstammstenose.
Hallo bin kein Mediziner u auch kein Student.
Vermute dass das Antihistaminikum zu einem Long QT geführt hat und das dadurch es zu einem paroxymalen Torsade de Point kommt.
Alle Medikamente mit Anti…sind glaub ich sehr schlecht für die Herzpathophysiologie.
Levocetirizin hat laut Fachinformation keinen Einfluss auf die QT-Zeit. Es wird über CYP3A4 verstoffwechselt, Fluoxetin über CYP2D6. Daher würde ich in diesem Fall keine großartigen Interaktionen erwarten. Aufgrund der aktuellen Klinik, Dyspnoe in der Anamnese, Risikofaktoren wie DM und Übergewicht und des EKGs (Erregungsrückbildungsstörungen in aVR und in den Brustwandableitungen bis in V6), vermute ich eine myokardiale Ischämie. Ich sehe aktuell keinen Anhalt für Torsade de Point, Sinusrhythmus ist auch vorhanden.
Kein Long-QT. Sinusrhythmus mit p-pulmonale Steiltyp und ERS vom Innenschichttyp. Bei einer 47 jährigen, übergewichtigen Patientin ist eher ein Linkstyp zu erwarten. Wir finden also Rechtsherzbelastungszeichen und ERS. Ich würde trotz guter Sättigung rezidivierende Lungenembolien in Betracht ziehen. Dazu pass auch die Luftnot in den letzten Tagen.
Auflösung zum Fall des Monats November 2019
Im Forum hat eine sehr interessante Diskussion begonnen. Auch vom Notarzt ist die genannte Medikations-Kombination mit arrhythmogenem Einfluss durchaus als Ursache der wiederholten kurzzeitigen Bewusstseinstrübungen bei Oberkörper-Vertikalisierung in Betracht gezogen worden. Eine normabweichende Dosierung oder Fehleinnahme der Medikation wird von der Patientin ausdrücklich verneint.
Nach Eintreffen in der Zentralen Notaufnahme eines Krankenhauses mit erweitertem Versorgungspektrum bleibt die Ursache dieser Synkopen auch beim secondary survey durch den aufnehmenden Internisten und nach EKG-Kontrolle in der ZNA zunächst unklar.
Vom diensthabenden Oberarzt wird dann jedoch echokardiographisch eine deutliche Rechtsherzbelastung festgestellt.
Die anschließende weitere Diagnostik ergibt eine relevante Lungenembolie der Patientin.
Es wird eine Actilyse-Behandlung durchgeführt.
Bei rascher Beschwerdebesserung kann die 47-jährige Frau 5 Tage später aus der stationären Behandlung entlassen werden.
Zum Fall nun das Statement meiner Internet-Recherche zu den EKG-Veränderungen bei der akuten Lungenembolie :
Die Sensitivität des EKG’s in der Diagnostik der akuten Lungenembolie ist begrenzt. Zu den Befunden, die mit einer akuten Lungenembolie assoziiert sein können, gehören:
• eine Sinustachykardie
• ein inkompletter oder kompletter Rechtsschenkelblock
• eine T-Wellen-Inversion
• ein SIQIII-Typ
• ST-Streckenveränderungen und
• neu auftretende Arrhythmien
Etwa 10 – 25% der Patienten mit klinisch bedeutsamer Lungenembolie haben ein normales EKG.
Wenn man die oben abgebildeten beiden EKG-Streifen des 12-Kanal-EKG’s der Patientin in diesem Zusammenhang nochmals betrachtet, lag also ein im EKG nicht unbedingt erkennbares Krankheitsbild vor.
Dennoch ist die Diagnose „ Lungenembolie “ in der Diskussionsrunde zur aktuellen Kasuistik gefallen.
Dr. Gerrit Müntefering
Arzt für Chirurgie / Unfallchirugie / Notfallmedizin
Lessingstr. 26
47445 Moers