Fall des Monats Januar 2019 / Teil 1 und 2


Alarmierungsmeldung am Dienstag 0:30 Uhr:

Männlicher Patient , 23 Jahre,  Status epilepticus

Situation vor Ort:

Annähernd zeitgleiches Eintreffen von NEF und RTW an einem Einfamilienhaus in einer Zechensiedlung. Eine ca. 50-jährige Frau (Mutter des Notfallpatienten) öffnet die Tür und führt das Rettungsteam in die engere Küche der Wohnung.

Hier wird ein 23-jähriger Patient mit (trotz kälterer Raumtemperatur) entblößtem Oberkörper auf dem Bauch liegend mit deutlicher Bewegungsunruhe vorgefunden. Auf dem Küchenboden findet sich eine Blutlache. Der Patient hat zwar die Augen geöffnet, reagiert aber nicht auf Ansprache.

Bei Versuchen der Rettungssanitäter, den Patienten in ein Raumareal ohne harte Möbelkanten zu ziehen, leistet dieser mit kräftigen Arm- und Beinbewegungen Widerstand. Notärztliche Abfrages zum aktuellen Ereignisablauf bei der Mutter. Diese kann keine Angaben machen. Die Frage nach einer vorbekannten Epilepsie ihres Sohnes wird von ihr verneint.  Ein regelmäßiger stärkerer Alkoholgenuss des Sohnes sei ihr ebenfalls nicht bekannt. Gefragt nach Drogenabusus, bestätigt die Mutter jedoch, dass der Sohn vorher schon einmal K-o.-Tropfen eingenommen hätte.

Weitere Informationen zur Erkrankungsvorgeschichte sind von der nicht sehr auskuntsbereiten Frau nicht zu erhalten.

Erstuntersuchung:

Eine Untersuchung des Patienten ist durch die starke Bewegungsunruhe und den Widerstand des Mannes stark erschwert. Es wird eine klaffende Augenbrauenplatzwunde links lateral als Blutungsquelle festgestellt. Unter erheblichem Krafteinsatz ist ein Blick in die Augen des Patienten möglich. Bei überwiegendem Blick zum Boden sind (trotz hellerer Küchenbeleuchtung) weite Pupillen beidseits erkennbar. Auch die Pulspalpation ist aufgrund der starken Bewegungsunruhe deutlich erschwert. Frequenz geschätzt über 110/min. Der Puls im Unterarmbereich ist ausreichend kräftig tastbar.

Der Patient muss mit 3 Ersthelfern am Boden gehalten werden.

Erstbehandlung:

Aufgrund des ausgeprägten Erregungszustands intranasale Gabe von 1 Ampulle Midazolam (5 mg) über MAD verteilt auf beide Nasenlöcher. Es zeigt sich allerdings auch nach einigen Minuten keine nennenswerte dämpfende Wirkung auf den Unruhezustand. Aufgrund dessen nochmalige intranasale Gabe der gleichen Midazolam-Dosis  6 Minuten später. Ein sedierender Effekt ist allerdings auch nach dieser 2.Gabe  nicht erkennbar. Bei aufgebrauchtem Bestand des niedrig dosierten Midazolams wird bei persistierender Unruhe und anhaltendem Widerstand des Patienten nun auf das höher konzentrierte Midazolam des Kinderkoffers (15 mg / 3ml) zurückgegriffen.

Auch nach Gabe von 15 mg Midazolam über MAD intranasal ist ein Sistieren der Unruhezustände weiterhin nicht erkennbar.

Weiteres Procedere ? / Teil 2

Die Polizei wird nachgefordert und ist 10 Minuten nach Alarmierung vor Ort. Von den Polizeibeamten werden dem rebellierenden Patatienten nun Handschellen angelegt und die strampelnden Beine mit Kabelbindern im Sprunggelenksbereich ruhiggestellt.

Dennoch ist die Bewegungsunruhe des Patienten so ausgeprägt, dass die Anlage eines intravenösen Zuganges nicht möglich ist.

Nach nochmaliger Gabe von 15 mg Midazolam über MAD intranasal kommt es schließlich zum langsamen Sistieren der Unruhezustände. Ein am Finger gehaltener Pulsoximeter ergibt eine Herzfrequenz von 120/min mit Sauerstoffsättigung von 95%.

Der Patient kann auf das Tragetuch gelegt werden und zur Trage des KTW transportiert werden.

Während des Transportes in das nahe gelegene  Krankenhaus mit CT- / MRT-Ausstattung und mit neurologischer Abteilung muss der auf der Trage liegende unruhige Patient (trotz Handschellen und  Gurtixierung) noch von beiden Seiten stabilisiert werden.

Der diensthabende Arzt der ZNA des angefahrenen Krankenhauses teilt mit, dass ihr einzig freies Intensivbett gerade im Moment durch einen beatmungspflichtigen neuen Patienten belegt wurde.

Der erstversorgenden Notarzt wird zum Zeitpunkt der ZNA-Übergabe für einen Folgeeinsatz alarmiert.  

Die relevanten Informationen der aktuellen Vorgeschichte können von ihm jedoch noch mitgeteilt werden.

Nach telefonischer Verlaufsabfrage des erstversorgenden Notarztes wird ihm 2 Stunden später berichtet, dass der Patient nach chirurgischer Versorgung der Augenbrauenplatzwunde in ein Krankenhaus der Nachbarstadt mit noch freien Intensivkapazitäten verlegt worden wäre.

Am  späten Nachmittag des Ereignistages dann Telefonat des Notarztes mit der Intensivstation des weiterbehandelnden Krankenhauses. Vom diensthabenden Arzt wird mitgeteilt, dass der Patient unter Fortführung der Sedierung mit Benzodiazepinen und Fixierung mit Bettgurten allmählich besser führbar gewesen sei. Der Patient habe das Krankenhaus am Mittag des gleichen Tages auf eigenen Wunsch gegen ärztlichen Rat verlassen.

Von einem Notarztkollegen,der diesen Fallverlauf kannte, wird dann 1 Tag später berichtet , dass er (am Tag 3 nach dem oben beschriebenen Erstereignis) erneut als Notarzt zur oben genannten Adresse gerufen worden sei. Hier habe er den 23-jährigen Patienten bewusstlos vorgefunden. Es bestand ein Monokelhämatom links.

Der Patient wurde in eine Klink der Maximalversorgung transportiert.

Diagnose ?

Dr. Gerrit Müntefering
Arzt für Chirurgie / Unfallchirurgie / Notfallmedizin
Lessingstr. 26
47445 Moers

6 thoughts on “Fall des Monats Januar 2019 / Teil 1 und 2

  1. Falls das Legen eines i.v. Zugangs nicht möglich ist, wäre noch die Gabe eines Benzodiazepins i.m. bzw. das Legen eines i.o. Zugangs eine Alternative. Beide Verfahren sind bei einem wehrigen Patienten aber auch mit einem Verletzungsrisiko behaftet.
    Man hätte besser auch von Beginn an, die höher konzentrierte Midazolam-Lösung im Rhamen der i.n.-Gabe wählen sollen.
    Meine favourisierte Lösung wäre doch der Versuch der Anlage eines i.v. Zugangs mit genügend Helfern.
    Falls dann die i.v. Gabe eines ausreichend hoch dosierten Benzodiazepins zu keinem Erfolg führt, wäre der Einsatz alternativer i.v. Hypnotika mit entsprechender Atemwegssicherung einer der nächsten Schritte; Keppra steht bei uns im RD leider nicht zur Verfügung.
    Gibt es eine O2-Sättigung ?

  2. Es könnte eine Intoxikation vorliegen. Hat der Patient warme Haut und trockene Schleimhäute? Dann wäre auch ein antichlinerges Syndrom zu diskutieren und ein Versuch mit Physostigmin indiziert.
    Ich würde ebenfalls die Anlage eines i.v. Zugangs anstreben und dann 2 mg Physostigmin geben.

  3. Hallo zusammen !

    Der Patient hat keine trockenen Schleimhäute und keine warmen Hautverhältnisse.
    Pulsoximetrie, BZ-Messung und Temperaturmessungen wurden anfangs versucht, erbrachten aber aufgrund der massiven Bewegungsunruhe und Aggressivität zunächst keine verwertbaren Ergebnisse.
    Erst als die Polizei Handschellen und Kabelbinder angewandt hatten, konnten ein SaO2 von 96% , ein BZ-Wert von 122 mg% und eine Temperatur von 37,9 ° im Ohr gemessen werden.

    Schöne Grüsse vom Niederrhein

    Wir sehen uns hoffentlich bald im Maternushaus Köln

    Gerrit Müntefering

  4. Weiterer Verlauf des 2. Notarzteinsatzes:

    Der bewusstseinsgetrübte Patient reagiert im Rahmen der notärztlichen Erstuntersuchung erkennbar gerichtet auf periphere taktile Reize. Pupillen mittelweit bis weit mit regelrechter Lichtreaktion. Blutdruck 130/80 mmHg, Puls 110/min. Sauerstoffsättigung 90%. Es erfolgt die Sauerstoffgabe und die Anlage eines periphervenösen Zugangs. Anschließend allmähliches Aufklaren des Patienten. Der Patient wird in die nahegelegene Klinik der Maximalversorgung gebracht bei unauffälligem Transportverlauf.

    In der Zentralen Notaufnahme des Klinikums wird der Patient den Neurochirurgen vorgestellt.
    Die apparative Diagnostik (Schädel-CT) ergibt eine abgegrenzte intrakranielle Blutung, wobei bei Möglichkeit der Hirndruckerhöhung die Notwendigkeit zur Anlage einer Spiegelberg-Sonde gesehen wird.

    Nach Anlage der Sonde erfolgt die neurochirurgische intensivmedizinische Überwachungsphase. Diese Phase ist durch wiederholt delirante Zuständen des Patienten gekennzeichnet, wobei durch Recherchen bei vorbehandelnden Ärzte eine Polytoxikomanie mit regelmäßiger Einnahme von Alkohol, Amphetaminen und Cannabis eruiert werden kann.

    Aufgrund der Unruhezustände und der offensichtlich fehlenden Behandlungsmotivation des „nicht entmündigten“ Patienten muss die Spiegelbergsonde 2 Tage nach Anlage bereits wieder entfernt werden. Der Patient verläßt die Klinik 4 Tage nach stationärer Aufnahme auf eigenen Wunsch gegen ärztlichen Rat.

    Dr. Gerrit Müntefering
    Arzt für Chirurgie / Unfallchirurgie / Notfallmedizin
    Lessingstr. 26
    47445 Moers

  5. Ich halte die Fesselung (Fixierung) mittels Schließacht (Handfesseln) der Polizei als absolut problematisch. Die KTW/RTW sind laut DIN mit Klettfesseln ausgestattet. Insbesondere, wenn man schnell die Fesseln lösen muss – plötzliches Erbrechen o.ä. – kann es zu gefährlichen Situationen kommen. Die Metallhandfesseln der Polizei kann man im Notfall nicht so schnell öffnen, wie die Klettfesseln – dafür sind diese auch gedacht!

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