Stellungnahme der AGNNW zum Beitrag „NRW will Tele-Notärzte einführen“

NRW- Gesundheitsminister Karl-Josef Laumann kündigte am 10. Oktober gegenüber der Rheinischen Post den flächendeckenden Einsatz von sogenannten „Tele-Notärzten“ an. Die Nachricht traf auf große Resonanz in den Medien, löste aber unter Fachleuten auch Überraschung aus. Ist jetzt tatsächlich der Zeitpunkt, um ein solches Projekt landesweit zu propagieren? Stellt es angesichts steigender Einsatzzahlen und Kosten einerseits und bei drohendem Fachkräftemangel und Mittelknappheit andererseits die Lösung struktureller Probleme im Rettungsdienst dar? Sind die Pro´s und Con´s ausreichend erörtert? Wie denken die Notärzte darüber?
Der Vorsitzende der AGNNW wurde in der Rheinischen Post aus einem ausführlichen Telefon-Interview mit einer Reihe von Pro-Argumenten zitiert (1). Um hier nicht das Missverständnis aufkommen zu lassen, die AGNNW würde den sogenannten „Telenotarzt“ ohne Vorbehalte unterstützen, wollen wir an dieser Stelle einen „Faktencheck“ vornehmen. Zu den Fakten gehört, dass wir den „Telenotarzt“ nach wie vor in Anführungszeichen setzen, um dadurch klar zu machen, dass der Notarzt am Funk nicht mit dem Notarzt am Einsatzort gleichgesetzt werden darf. Dies muss vor allem dem Bürger und potenziellen Patienten klar sein. Fakt ist aber auch, dass wir heute – anders als noch vor 10 Jahren – die stetig zunehmenden Möglichkeiten der Telemedizin im Rettungsdienst wertschätzen. Die Aachener Kollegen haben über viele Jahre ein bemerkenswertes Projekt vorangetrieben und in den Routinebetrieb übernommen. Sie konnten Praktikabilität und technische Machbarkeit unter Beweis stellen und für ihren Bereich Kostenvorteile errechnen. An mehreren Standorten in Deutschland (u.a. Greifswald, Oldenburg, Straubing, Main-Kinzig-Kreis) finden derzeit entsprechende Folgeprojekte statt. Die BAND hat in einem Positionspapier 2016 den Einsatz der Telemedizin trotz rechtlicher Vorbehalte als eine additive Maßnahme zu einer qualitativ hochwertigen Versorgung von Notfallpatienten eingeordnet (2). Mit dem neuen Ausbildungsberuf im Rettungsdienst nehmen zugleich die Möglichkeiten zu, medizinische Maßnahmen am Patienten durch Notfallsanitäter eigenverantwortlich und bei Notwendigkeit unter telemedizinischer ärztlicher Supervision vornehmen zu können.
Fakt ist aber auch, dass die Deutsche Gesellschaft für Anästhesiologie und Intensivmedizin 2016 in einer Strukturempfehlung „Telemedizin in der prähospitalen Notfallmedizin“ (3) neben möglichen Indikationen für den „Telenotarzt“ (z.B. Begleitung von Interhospitaltransporten bei stabilen Patienten) zugleich Indikationen aufführt, die ausdrücklich dem „konventionellen Notarzt“ vorbehalten sind. Hierunter finden sich auch die zeitkritischen Krankheitsbilder (Tracerdiagnosen), denen im „Eckpunktepapier 2016 zur notfallmedizinischen Versorgung der Bevölkerung“ (4) besondere Anforderungen an Therapie, Einsatztaktik und Zeitmanagement sowie Wahl des geeigneten Zielkrankenhauses zugeordnet werden, wie z.B. Polytrauma, Herzinfarkt, Schlaganfall (mit Bewusstlosigkeit) und Reanimation. In der DGAI-Kommission Telemedizin und eHealth sind die Aachener Kollegen federführend vertreten. Von der Intention eines grundlegenden Ersatzes des Notarztes im Einsatz am Patienten vor Ort kann daher nicht die Rede sein. Auch der Minister spricht von einer „ergänzenden“ Einführung des „Tele-Notarztes“ unter Beibehaltung des Rendezvous-Systems. Die Implementation eines „Telenotarzt“-Systems kann nach individueller Prüfung – abhängig von den lokalen und regionalen Gegebenheiten – eine Qualitätsverbesserung darstellen. Dennoch gibt es ungelöste Probleme bei Patienteneinwilligung, Datenschutz und technischer Übertragungssicherheit. Die Stadtverwaltung Köln wies nach einer Erprobungsphase in einer Stellungnahme an den Rat der Stadt ebenfalls 2016 auf nicht unerhebliche Aufwendungen für die Beschaffung der Technik, der Wartung und insbesondere für die Schulung von Mitarbeitern hin (5). Mit Spannung erwarten wir daher Ergebnisse einer unabhängigen wissenschaftlichen Studie der Universität Maastricht zu Effektivität, Effizienz und Akzeptanz.
Jede Kommune muss bei vollständiger Ausstattung ihrer Rettungswagen mit nicht unerheblichen Anfangsinvestitionen rechnen. Die nachfolgend erhoffte Kostenreduktion im Personalbereich kann nur effektiv sein, wenn eine regionale interkommunale Zusammenarbeit zustande kommt, wenn sich Kommunen also einen „Telenotarzt“ teilen bzw. sich an
den Kosten einer Nachbarkommune beteiligen. Hier eine flächendeckende Verbreitung zu erreichen, wird nicht einfach sein, zumal das Ministerium in anderen Fragen, z.B. bei der Forderung nach Unterstützung der Einführung von Ersthelfer-Apps, regelmäßig auf die Planungshoheit der Kommunen verweist.
Die Rheinische Post ergänzt in ihrer Ausgabe vom 11.10.18 den redaktionellen Beitrag auf der Titelseite um einen Kommentar auf Seite 2 und nimmt dort Bezug auf den „exzellenten“ Ausbildungsstand des rettungsdienstlichen Personals im internationalen Vergleich (6). Gut ausgebildete Notfallsanitäter sind die Grundvoraussetzung für ein funktionierendes „Telenotarzt“-System. Bei aller Kompetenz, die der Notfallsanitäter nach dreijähriger Ausbildung mitbringt, handelt es sich dennoch im internationalen Vergleich noch nicht um Exzellenz. Nachbarländer haben weit umfangreicher ausgebildete Paramedics (7). Hinzu kommt, dass gerade NRW sich bei der Ausbildung von Notfallsanitätern nicht beeilt hat. Noch gibt es die „Dreijährigen“ (also die Notfallsanitäter mit Vollausbildung) nicht bzw. nicht flächendeckend, welche die „in der Ausbildung erlernten und beherrschten, auch invasiven Maßnahmen“ eigenverantwortlich oder im Rahmen der Mitwirkung nach Delegation vornehmen.
Die Forderung des Ministeriums nach flächendeckender Einführung des „Telenotarztes“ sollte daher niemanden euphorisch stimmen. Ein solcher Prozess wird einige, wahrscheinlich viele Jahre in Anspruch nehmen. Die AGNNW wendet sich nicht gegen den „Telenotarzt“. Wir wollen jedoch darüber andere aktuell sinnvolle und ebenso wichtige, aber bisher unerreichte Ziele zur Verbesserung der prähospitalen Notfallmedizin nicht vergessen. Hierzu zählt die landeseinheitliche Delegation ärztlicher Maßnahmen über Standard-Arbeitsanweisungen durch den Ärztlichen Leiter Rettungsdienst an entsprechend aus- und fortgebildete Notfallsanitäter. Dazu gehört auch neben den bereits angesprochenen Ersthelfer-Apps eine konsequente Einführung von Reanimationsunterricht in den Schulen ab Klasse 7, wie sie von der Kultusministerkonferenz bereits 2014 beschlossen wurde, und die weitere Stärkung der Telefonreanimation – alles Maßnahmen zur Verkürzung des therapiefreien Intervalls – sowie die Implementierung standardisierter, strukturierter Notruf-Abfragen in den Leitstellen. Standardisierte Abfragen schonen die Ressource Notarzt, Telefonreanimation und Ersthelfer-Apps können Menschenleben retten – und das landesweit!

Der Vorstand der AGNNW, am 12. Oktober 2018

1) Rheinische Post (11.10.18). NRW will Tele-Notärzte einführen.
URL https://rp-online.de/nrw/landespolitik/nrw-tele-notaerzte-sollen-notfaelle-kuenftig-aus-der-ferne-beurteilen_aid-33594685
2) Gretenkort P, Beneker J, Dörges V, Fischer L, Kann D, Sefrin P (Arbeitskreis Strukturfragen der BAND). Strukturänderungen in der präklinischen Notfallmedizin – Standortbestimmung 2016. Notarzt 2016; 32(06): 264-270.
URL www.band-online.de/pdf.php?id=8330&lang=de&name=Strukturpapier
3) DGAI (2016). Telemedizin in der prähospitalen Notfallmedizin: Strukturempfehlung der DGAI. Anästhesiologie & Intensivmedizin 57:160-166.
URL https://www.bda.de/files/Mrz_2016_-_Aus_der_Kommission_Telemedizin.pdf
4) Fischer M, Kehrberger E, Marung H, et al. (2016). Eckpunktepapier 2016 zur notfallmedizinischen Versorgung der Bevölkerung in der Prähospitalphase und in der Klinik. Notfall- und Rettungsmedizin DOI 10.1007/s10049-016-0187-0.
URL https://www.uni-kiel.de/anaesthesie/docs/RD/Eckpunktepapier_2016_1.pdf
5) Stadtverwaltung Köln (2016). Beantwortung einer Anfrage der FDP-Fraktion im Rat der Stadt Köln (AN/1895/2015).
URL https://ratsinformation.stadt-koeln.de/getfile.asp?id=539346&type=do&
6) Reisener T (11.10.18). Keine Angst vor den neuen Tele-Notärzten.
URL https://rp-online.de/panorama/deutschland/telenotaerzte-sind-eine-chance-fuer-den-rettungsdienst_aid-33595247
7) Gretenkort P, Beneker J, Dörges V, Sefrin P, Fischer L, Riebandt F (Arbeitskreis Strukturfragen der BAND). Einsatz von Notärzten in Ländern mit Paramedic-System. Notarzt 2017; 33(06): 272-278