Fall des Monats Mai 2017

Alarmierungsmeldung Samstagmorgen 4:00 Uhr:

Altenheimbewohner in schlechtem Allgemeinzustand. Zunehmende Dyspnoe

Eintreffen des NEF zeitgleich mit dem RTW 6 Minuten nach Alarmierung im Altenheim.

Von der Nachtwache der Station wird darauf hingewiesen, dass sie aktuell nur Aushilfe auf der Station sei und sie daher von Vorgeschichte des Altenheimbewohners nur ungenaue Kenntnisse hätte.

Das Stammblatt des 72-jährigen Altenheimbewohners kann eingesehen werden.

Laut Personenstammblatt ist bei dem Notfallpatienten ein Diabetes mellitus (nicht insulinpflichtig) bekannt. Weiterhin besteht eine koronare Herzkrankheit mit notwendiger 5-fach Stent-Implantation vor einigen Jahren. 6 Jahre zuvor habe der Versicherte einen cerebralen Insult erlitten mit nachfolgenden mäßigen sensomotorischen Einschränkungen der linken oberen und unteren Extremität. Seit 2 Jahren sei nun eine rasch zunehmende demenzielle Entwicklung des 72-jährigen Mannes zu beobachten mit mittlerweile nahezu aufgehobener Kommunikationsfähigkeit.  

Im Vorjahr habe der Patient dann einen Hirnstamminfarkt erlitten mit daraufhin weitestgehender Bettlägerigkeit des 72-jährigen Manns.

Eine Betreuung des Patienten durch die Ehefrau sei eingerichtet worden. Auch eine „standardisierte“ Patientenverfügung ist erstellt worden. Aufgrund dieser Krankheitsentwicklung sei auch seit geraumer Zeit von einer Palliativsituation gesprochen worden.

Eine palliativmedizinische Betreuung sei allerdings bisher noch nicht eingeleitet worden.

Der 72-jährige Mann wird seit 4 Wochen im hiesigen Altenheim pflegerisch versorgt. Bei Blasenentleerungsstörung musste vor einigen Wochen ein Blasendauerkatheter angelegt werden

Vor ca. 14 Tagen sei er auch für einige Tage im nahegelegenen Krankenhaus aufgenommen worden bei schlechtem Allgemeinzustand. Zu einer Mitbetreuung des Patienten auf der im Krankenhaus vorhandenen Palliativstation sei es allerdings nicht gekommen, da von Seiten der Ehefrau selbst gering stabilisierende Basismaßnahmen abgelehnt worden seien.

Aktuelle Vorgeschichte:

Nach Angaben der Nachtwache sei bereits am Nachmittag des Vortages eine deutliche Zustandsverschlechterung bei dem Altenheimbewohner erkennbar gewesen.

Bei zunehmender Fieberentwicklung sei am Nachmittag der Hausarzt informiert worden, dieser habe ohne Heimbesuch fiebersenkende Maßnahmen empfohlen. Nun ist in der zweiten Nachthälfte seit ca. 3 Stunden eine zunehmende Dyspnoe des

Altenheimbewohners auffällig. Zu einer Kontrolle der Vitalparameter und eine Messung der Körpertemperatur hatte die Nachtwache bei intensiver Arbeitsbelastung bisher noch keine Gelegenheit gehabt.

Körperlicher Untersuchungsbefund:

Im Pflegebett liegt der 72-jährige Heimbewohner in schlechtem Allgemeinzustand. es besteht eine deutlichere Dyspnoe und Tachypnoe mit hörbaren Rasselgeräuschen.

Der Patient hat die Augen geöffnet, kann aber nicht kommunizieren.

Blutdruck 80/60 mmHg Puls 135/min Atemfrequenz 18 Sauerstoffsättigung 85 %.

Körpertemperatur (mit dem Ohrthermometer gemessen): 39,7°

Der über den suprapubischen Blasenkatheter abgeleitete Urin zeigt eine trübe und auch dunkle Färbung.

Eine Bilanzierung der Einfuhr- und Ausfuhrmengen ist nicht erstellt worden

Bei der Auskultation des Thorax werden mittel- bis grobblasige Rasselgeräusche über beiden Mittel und Unterfeldern festgestellt.

Die Atemexkursionen sind flach.

Im Pflegebericht der Altenpflegestation findet sich am Vorabend der Eintrag, wonach die Ehefrau des Patienten weitergehende Maßnahmen zur Lebensverlängerung ihres Mannes ausdrücklich nicht gewünscht habe.

Unter Berücksichtigung der aktuellen Befundentwicklung weist der Notarzt die Nachtwache an, trotz der späten nächtlichen Stunde einen Telefonkontakt zur Ehefrau des Patienten herzustellen.

Die Telefonverbindung kann daraufhin auch erfolgreich hergestellt werden.

Der Notarzt schildert der Ehefrau die aktuelle Befundentwicklung ihres Mannes, die eine Weiterversorgung des 72-jährigen Patienten im Altenheim seines Erachtens nach nicht mehr zuließe.

Die Ehefrau des Patienten teilt dem Notarzt am Telefon mit, dass sich unverzüglich auf den Weg ins Heim machen würde.

Die Ehefrau trifft dann auch 10 Minuten später im Altenheim ein.

Der Notarzt erklärt der Ehefrau, dass eine Stabilisierung des Zustandes ihres Mannes auf niedrigem Niveau und eine effektive Behandlung der drohenden Ateminsuffizienz bei erkennbarer Sepsis nur unter stationärer Krankenhausverlaufskontrolle möglich sei.

Die Ehefrau des 72-jährigen Patienten lehnt einen Transport ins Krankenhaus zunächst ab, kann aber dann (unter Hinweis auf einen qualvollen Verlauf einer Sepsis mit Ateminsuffizienz und auch möglicher Urosepsis) doch noch von einer notwendigen Krankenhaustherapie überzeugt werden. Sie möchte allerdings  – wenn  überhaupt –  nur eine stationäre palliativmedizinische Weiterversorgung ihres Mannes.

Die einzige Palliativstation nun im weiteren Umfeld des Einsatzortes wird daraufhin telefonisch vorinformiert. Die diensthabende Palliativmedizinerin lehnt aber die stationäre Aufnahme des Patienten ab, da sie keine freie Bettenkapazität habe. Außerdem sei  ihr der Fall auch von vor 14 Tagen noch bekannt, wobei die Ehefrau – wie oben erwähnt –  jegliche Therapie verweigert habe.

Erstmaßnahmen:

Sauerstoffgabe über Maske.

Die Anlage eines intravenösen Zugangs zur Infusionstherapie wird von der Ehefrau abgelehnt.

Blutdruck: 70/50 mmHg Puls 132/min

Atemfrequenz 18

Sauerstoffsättigung unter Sauerstoffinsufflation von 4 l/ Min 88 %.

Körpertemperatur (mit dem Ohrthermometer gemessen): 40,1°

 

Weiteres Procedere?

 

 

Dr. Gerrit Müntefering

Facharzt für Chirurgie/Unfallchirurgie/Notfallmedizin

6 thoughts on “Fall des Monats Mai 2017

  1. Das Erzwingen einer stationären Krankenhausbehandlung unter den geschilderten Umständen sollte aus meiner Sicht kritisch hinterfragt werden. Darüber hinaus sollte jede allgemeininternistische Abteilung in der Lage sein,  diesem Patienten eine palliativmedizinische Basisversorgung zukommen zu lassen. Auch als Notarzt kann man diese im Pflegeheim zumindest beginnen und versuchen dort die weitere Versorgung zu organisieren.

  2. Ich denke auch, es sollte nach erfolgloser Anmeldung auf der naheliegenden Palliativstation die Anfrage zur Aufnahme auf die nächste allg. internistische Station erfolgen. Diese sollte in der Lage zur palliativen Basisversorgung sein bzw. konsilarischen Kontakt zu Palliativmedizinern herstellen können.
    Sollte dieser Weg nicht möglich oder abgelehnt werden, halte ich das Belassen des Patienten (Zustimmung der Frau vorausgesetzt) in der Wohneinrichtung für vertretbar, nachdem der Ehefrau alle Umstände, die infauste Prognose, sowie das weitere Vorgehen transparent geschildert wurden. In diesem Rahmen würde man sich mit der Frau wahrscheinlich einig werden, ihrem Mann wenigstens eine palliative Maßnahme zur Linderung der Dyspnoe in Form einer s.c.-Injektion von 5-10mg Morphin zukommen zu lassen (nach Erläuterung eines begünstigten Todeseintrittes durch Nebenwirkungen), was meines Wissens nach als indirekte Sterbehilfe ausgelegt werden kann und somit nicht strafbar wäre. Außerdem sehe ich es als Aufgabe des Notarztes, auch weitere sozialmedizinische Aspekte zu beleuchten und zu klären, ob die Ehefrau bei ihrem Mann bleiben möchte, oder bei nahendem Todeseintritt vom Heimpersonal informiert wird. Zu all dem muss selbstverständlich eine umfassend vollständige Dokumentation mit Bezug zur Patientenverfügung, sowie Aussagen der Frau und genau protokollierten Tätigkeiten am Einsatzort (Anruf Ehefrau, Krankenhaus, Erörterung weiteren Vorgehens) angefertigt werden. So kann man, denke ich, in allseitigem Einverständnis ethisch und rechtlich konform handeln.

  3. Ich schließe mich Richards Meinung an, insbesondere insofern, als dass ich ebenfalls dazu neigen würde, den Patienten vor Ort zu belassen. Hinsichtlich der Palluativsituation scheint es zwar keine ganz belastbaren Daten zu geben, aber die vorgefundene Situation mit der Dokumentation der Vorgeschichte lässt m.M.n. eine derartige Beurteilung zu. Ob die Patientenverfügung hier überhaupt greift, ist fraglich, da vermutlich Formulierungen vorkommen wie "wenn zwei Ärzte unabhängig bestätigen, dass ich im Sterbeprozess bin" oder Vergleichbares.

    Deshalb würde auch ich nach ausführlicher Erläuterung der Lage der Ehefrau Mo s.c. vorschlagen und den Patienten im Heim belassen. Mit der Pflegekraft sollte man evt. bestehende Unsicherheiten und den zu erwartenden Verlauf klären.

  4. Die Diskussion um den iv-Zugang hätte ich nicht gehabt, während des Telefonats mit der Ehefrau wären schon die ersten 250 ml infundiert.

    Wenn die Patientenverfügung keinen Wunsch nach Maximaltherapie vermuten lässt, dürfte die Aussage der Ehefrau zum weiteren Prozedere verbindlich sein. Eine stationäre Einweisung ohne die Einwilligung in eine Behandlung wäre dann aber nicht zielführend. Daher würde ich mich den bisherigen Statements anschließen, den Pat. im Heim belassen, Morphingabe und möglichst auch Infusionsgabe vereinbaren. Am Morgen würde ich möglichst den Hausarzt persönlich informieren, denn ein Folgebesuch im Laufe des Vormittags ist sicherlich angeraten.

    Die Diskussion um Sterbehilfe angesichts einer indizierten Morphingabe in der genannten Dosis halte ich für irrelevant.

  5. Vielen Dank für das schöne Fallbeispiel. Auf die Auflösung bin ich schon gespannt. 

    Mein Vorschlag wäre gewesen: 

    Sofern sich vor Ort die Einschätzung spätes Terminalstadium bzw. Finalsadium bestätigt, hätte ich der Ehefrau eine Palliative nichtinvasive Versorgung z.B. mittels Opiaten via MAD vorgeschlagen. Sofern dies im Einvernehmen mit der Ehefrau, der Patientenverfügung, dem Team sowie allen sonstigen Beteiligten angenommen werden kann fände ich dies die humanste Lösung. Wichtig ist mir hier die Beteiligten nicht ohne einen klar abgesprochenen Plan für den weiteren Sterbeprozess zu Hause zu lassen. Mögichkeiten welche aktiviert werden könnten wären beispielsweise ein Seelsorger, Nachsorgeteam, Hausarzt, Kassenärztlicher Notdienst.

     

  6. Wie einige Teilnehmer des Diskussionsforum bereits angesprochen bzw. vorgeschlagen haben, wurde auch vom hier involvierten Notarzt die Betreuung des Heimbewohners auf der internistischen Abteilung eines Krankenhauses der Grundversorgung für ausreichend und sinnvoll gehalten.

    Unter erneutem Hinweis auf einen möglichen qualvollen Verlauf einer Sepsis mit Ateminsuffizienz und vermutlich gleichzeitiger Urosepsis und nach Darstellung der Möglichkeit einer effizienteren symptomlindernden Therapie im Krankenhaus konnte die Ehefrau des Heimbewohners schließlich doch zum Transport ihres Mannes zur inneren Abteilung des nahe gelegenen Krankenhauses überredet werden. Auch die Anlage eines intravenösen Zuganges zum moderaten Volumenausgleich und zur Pharmakotherapie konnte schließlich mit Zustimmung der Ehefrau erfolgen.

    Im Rahmen der internistischen Weiterbehandlung des Heimbewohners im Krankenhaus konnte dann passager eine zufriedenstellende Zustandsverbesserung erreicht werden. Der Patient verstarb 2 Tage später ohne schwerwiegende Sepsis-Symptomatik und bei adäquater Medikation ohne Agonie im Krankenhaus.

     

    Dr Gerrit Müntefering

    Facharzt für Chirurgie/Unfallchirurgie/Notfallmedizin

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