Arbeitsgemeinschaft Notärzte in Nordrhein-Westfalen

Fall des Monats November 2023

 

NA-Anforderung zur Hilfeleistung im Nachbarbezirk Samstagnacht 22:30 Uhr : Alarmierungsmeldung: Comedy-Veranstaltung, Ältere Patientin mit Zustand nach Reanimation, Malteser-Bereitschaftsdienst vor Ort

 

Situation am Einsatzort:

Das NEF hat zum Nachbarbezirk einen längeren Anfahrtsweg und trifft erst 11 Minuten nach Alarmierung am Einsatzort ein (Stadthalle einer Kleinstadt mit aktuell noch laufendem Showprogramm eines bekannten Komödianten). Die Einweisung des NEF erfolgt vor Ort durch einen Rettungsassistenten des DRK-Rettungsdienstes. Eine 74-jährige Frau befindet sich im RTW der bereitschafts-führenden Hilfsorganisation. Die Patientin sitzt auf dem Klappsitz, wach und ansprechbar.

 

Aktuelle Vorgeschichte: 

Die involvierten Notfallsanitäter berichten, dass die Frau – nach Angaben einer auch im Konzertsaal anwesenden Bekannten – plötzlich kollabiert sei.  Nach Angaben der Bekannten habe allerdings ein ungebremstes Sturzereignis mit Schädeltrauma durch die eng stehenden Besucher der Veranstaltung vermieden werden können. Sie habe anschließenden mehrfach im Gesichtsbereich kurz gezuckt. Die sofort alarmierte Bereitschaft des Malteser-Hilfsdienstes habe die Frau zunächst über mehrere Minuten tief eingetrübt in Rückenlage vorgefunden. Sie habe allerdings auf stärkere Schmerzreize im Extremitätenbereich gerichtet reagiert. Nach 3- 4 Minuten habe die Frau das Bewusstsein dann wiedererlangt. Die ansprechbare und rasch wieder mobile Patientin habe dann die angekündigte Lagerung auf die Trage abgelehnt. Auch die Erstuntersuchung gestaltet sich aufgrund der Bewegungsunruhe der Patientin zunächst schwierig. Kein Zungenbiss, keine Enuresis. Die Patientin kann zum Sturzereignis keine genauen Angaben machen. Ein vorbekanntes Krampfleiden wird von ihr verneint.

Nachdem die Überprüfung der Vitalparameter durch das Rettungsteam keinen pathologischen Befund ergibt, wird die nun mobile, aber renitente Patientin (beidseits von den Notfallsanitätern gestützt) aus dem Saal begleitet. Auf dem Flur des Hallenausgangs kollabiert die Patientin jedoch erneut. Der sofort durchgeführte Vitalcheck ergibt bei erneut fehlender Ansprechbarkeit auch eine Apnoe, so dass vom Rettungsteam mit der kardiopulmonalen Reanimation begonnen wird. Bereits 20-30 Sekunden nach Beginn der Thoraxkompression erlangt die Patientin das Bewusstsein wieder, reagiert gerichtet auf Ansprache und versucht wieder aufzustehen. Das Aufrichtmanöver wird vom Rettungsteam verhindert. Beim erneuten Check der Vitalparameter ergibt eine Herzfrequenz von 88 pro Minute, Blutdruck wird mit 220/120 mmHg gemessen, Sauerstoffsättigung 91%. Daraufhin Transfer auf der Trage in den RTW.
Die Patientin will sitzen und lässt sich nicht auf der Trage halten.

 

Dem nun eingetroffenen Notarzt wird von den erstversorgenden Notfallsanitätern mitgeteilt, dass die Patientin eine weitergehende Behandlung insbesondere einen Transport ins Krankenhaus ablehne.
Die Patientin teilt mit, dass sie nun gerne nachhause gehen würde. Dort könne sie dann sofort ihre Blutdrucktablette einnehmen. Befragt nach Alkoholgenuss gibt die Patientin an, dass sie drei oder vier Gläser Bier getrunken habe. Auch an den zweiten Sturz kann sich die Patientin nicht mehr erinnern. 

 

Weiterer Untersuchungsbefund im RTW:

Pupillen isokor, mittelweit Pupillenreaktion auf Licht und Konvergenz prompt. Prüfung der Hirnnerven orientierend o.B.

Kein Meningismus.

Extremitätenbeweglichkeit und Kraftentwicklung orientierend unauffällig.  Keine Sensibilitätsstörungen.

Thorax und Abdomen ebenfalls ohne pathologischen Befund. Vesikuläratmen bds.

Die Patientin kann vom Notarzt nun zumindest überredet werden, ein EKG ableiten zu lassen und nochmals den Blutdruck messen zu lassen.

 

Das abgeleitete EKG zeigt den nachfolgenden Befund:

 

Blutdruck 210/120 mmHg. Frequenz 100 pro Minute 

 

Daraufhin ermahnt der Notarzt die Patientin nochmals eindringlich, dass eine intravenöse Therapie unter engmaschiger Kontrolle und eine stationäre Überwachung unbedingt erforderlich seien.

Die Patientin lehnt jegliche weiteren Maßnahmen ab und will den RTW verlassen.

 

Weiteres Procedere?

Dr. Gerrit Müntefering
Arzt für Chirurgie / Unfallchirurgie / Notfallmedizin
Lessingstr. 26
47445 Moers

 

4 thoughts on “Fall des Monats November 2023

  1. Solche Situationen ergeben sich immer wieder und rufen bei mir Unsicherheit hervor. Unabhängig von der konkreten medizinischen Ursache für die rezidivierenden Synkopen dürfte es unbestritten sein, dass eine sehr hohe Wahrscheinlichkeit besteht, dass sie in absehbarer Zeit erneut auftreten und für die Patientin und ggf. auch für Dritte (ist die Pat. Fahrzeugführerin?) eine erhebliche Gefahr bedeuten können.
    Erst einmal sollte man alle Methoden ausschöpfen, um die Pat. zum freiwilligen Mitkommen zu bewegen: Drastische Schilderung der Geschehnisse und der stattgehabten wie erneut drohenden Lebensgefahr bei ausbleibender Behandlung. Da das vermutlich nicht ausreichen wird, kann man nun die Bekannte mit ins Boot holen, nach Möglickeit Kinder/Verwandte kontaktieren als Unterstützung. Wenn die Pat. selbst Auto fährt, schildert man ihr die Gefährdung Dritter durch Unfall bei erneuter Synkope. Hoffentlich reicht das, um de Pat. zum Einlenken zu bewegen. Ich befürchte jedoch, dass dem nicht so ist.
    Bisher scheint es so, dass die Patientin den Ernst der Lage nicht erfassen kann, also auch nicht wirkungsvoll Entscheidungen diesbezüglich treffen kann. Anders wäre es, wenn sie sagen würde: „Die Gefahr ist mir voll bewusst. Ich lasse mich jetzt nach Hause bringen. Wenn ich morgen nicht mehr aufwache, ist das ok, ich habe mein Leben gelebt.“ Dann müsste man von einer einfachen fehlenden Behandlungsbereitschaft ausgehen, die zu akzeptieren wäre.
    Wenn es im vorliegenden Fall aber um fehlende Einsichtsfähigkeit geht, sieht das anders aus. Dann besteht aus meiner Sicht eine Behandlungspflicht (so wenig wie möglich, aber so viel wie nötig, um die unmittelbare Gefahr abzuwenden). Wie man die praktisch umsetzen soll, ist natürlich hier die Gretchenfrage.
    PsychKG dürfte hier eher nicht anwendbar sein, da vermutlich keine psychiatrische Grunderkrankung vorliegt. Sollte man per Fremd- oder Eigenanamnese Hinweise auf z.B. einen Alkoholabusus ermitteln können, könnte man eine Suchterkrankung geltend machen und das PsychKG theoretisch anwenden. Allerdings wäre das Ziel-KH ja eine Somatik, wo sich das nächste Problem auftut.
    Wenn die Pat. fremdgefährdend wäre (als Fahrzeugführerin) könnte man die Polizei hinzuziehen, die aus meiner Sicht für eine solche Gefahrenabwehr zuständig ist. Die würde man ja auch rufen, wenn jemand mit einer Waffe herumfuchtelt.
    Ich würde also tatsächlich alles nahe- und auch ferner Liegende versuchen, um die Patientin einer weiteren Diagnostik und Behandlung zuzuführen.
    Wenn keiner dieser Ansätze greift, muss man die Patientin ziehen lassen. Ausführlich dokumentieren mit der Unterschrift von Zeugen (z.B. RD-Personal).
    Die Patientin könnte zwar (wenn sie dazu bereit ist), eine Ablehnung der Behandlung unterschreiben, das hätte aber bei unterstellter fehlender Einsicht aus rechtlicher Sicht keinen Wert.
    Medizinischer Bewertung: Am ehesten arrhythmogene Synkope bei Vorhofflattern und fraglicher Delta-Welle (II, V1).

  2. Hallo, schwere Kost. Stimme mit Steffi überein, es gibt keine klare Indikation zu Zwangsmaßnahmen. 3-4 Bier (i.d.R. 0,3L Pils bei solchen Veranstaltungen, und viel zu teuer und nur Schaum!) machen auch keinen Abusus. Ich würde ebenfalls versuchen Angehörige zu kontaktieren, falls das überhaupt möglich ist, und dann bitten, nach der Dame zu sehen oder in Empfang zu nehmen. Bei dem neurologischen, körperlichen und objektiven Untersuchungsbefund ist der Wille zu respektieren. Auch die Minuten der Bewusstlosigkeit bzw. Abwesenheit rechtfertigen m.M. keine Einweisung gegen den Willen.
    Gute Dokumentation !
    Herzliche Grüße
    Frank

  3. Entgegen meinen Vorkommentatoren bin ich bezüglich der Geschäftsfähigkeit der Patientin anderer Meinung:
    Nach einer stattgehabten Reanimation sollte regelhaft eher keine Geschäftsfähigkeit vorliegen.
    Angesichts der kurzen Dauer wäre zwar die Frage zu stellen, ob es sich im vorliegenden Fall tatsächlich um einen Herz- Kreislaufstillstand gehandelt hat, aber da zu dem Zeitpunkt kein Monitoring angebracht war, ist erstmal davon auszugehen, das dieser vorlag.
    Zudem: Ist bekannt, welche Medikamente die Pat nimmt und wie deren Wechselwirkung mit Alkohol ist?

    Zum weiteren Vorgehen:
    – Bekannte/ Freunde/ Familie der Pat involvieren und bitten, zu intervenieren und sie zu überzeugen
    – Einbeziehen Pol
    – angesichts des EKG ist ggf in der Zwischenzeit auch eine weitere, unmittelbare Behandlungsbedürftigkeit eingetreten/ notwendig geworden

  4. Weiterer Verlauf der Novemberfalls 2023 :
    Eine nachvollziehbare Vorgehensstrategie ist bereits von Steffi und Frank vorgestellt worden. Aber auch John’s Argument der mangelnden Geschäftsfähigkeit nach beschriebener Reanimationssituation (die von professionellen Rettern mitgeteilt wurde) ist durchaus plausibel.

    Vom Notarzt wird auf jeden Fall eine weitere engmaschige Überwachung der 74-jährigen Patientin für notwendig gehalten. Erfreulicherweise gibt sich dann auch eine Bekannte der Patientin vor Ort zu erkennen. Die Bekannte wird dann nach weiteren Angehörigen der Patientin befragt und kann auch motiviert werden, die Tochter der Patientin, die (welch ein günstiger Umstand !! ) Arzthelferin ist, telefonisch über die aktuelle Situation zu informieren.

    Eine in der Nähe befindliche Polizeistreife wird von einem Notfallsanitäter kurz von der aktuellen Sachlage informiert ( – nur für den Fall, dass die resolute alkoholisierte Patientin sich entschließen würde, den Rückweg als gangunsichere Fußgängerin oder gar mit dem eigenen PKW anzutreten -)

    Erfreulicherweise trifft die telefonisch informierte Tochter der Patientin kurzzeitig später an der Veranstaltungshalle ein. Nach Information zur Lage kann sie ihrer Mutter anschließend eine doch sehr klare Ansage machen und sie in deutlicherem Kommandoton dann doch überzeugen, die Nacht zur Überwachung im nahe gelegenen Krankenhaus zu verbringen, um nicht noch eine eventuelle 3. Synkope miterleben zu müssen.

    Transportverlauf:
    Die Patientin lehnt die Anlage eines intravenösen Zugangs (zur antihypertensiven Medikation) erwartungsgemäß ab. Dennoch kann die Patientin zumindest von einem sichereren Transport in angeschnallter Liegeposition überzeugt werden. Der Blutdruck zeigt nach während des Transportes auf einen Wert von 175 /110 mm Hg. Probleme treten während des Transportes der Patientin zur internistischen Notaufnahme nicht auf.

    Telefonische Verlaufsabfrage durch den Notarzt am Folgetag:
    Nach stationärer Aufnahme der Patientin konnte in der zweiten Nachthälfte auf der Überwachungsstation ein komplikationsloser Verlauf mit raschem Rückgang der Hypertonie dokumentiert werden.
    Am Morgen des Folgetages bestand bei der Patientin offensichtlich nicht der Wunsch eines weiteren Monitorings und einer Abklärung der im EKG erkennbaren Arrhythmie.

    Die 74-jährige Frau verlässt die Klinik bereits am Vormittag gegen ärztlichen Rat.

    Dr. Gerrit Müntefering
    Arzt für Chirurgie / Unfallchirurgie / Notfallmedizin
    Lessingstr. 26
    47445 Moers

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