Arbeitsgemeinschaft Notärzte in Nordrhein-Westfalen

RTW-Alarmierung durch den Leitstellendisponenten:  

weibliche Person, 45 Jahre, Erbrechen und unklarer Schwindel, Anrufer schwer verständlich  

Situation vor Ort:

Der RTW trifft 5 min nach Alarmierung am Einsatzort ein (Mehrfamilienhaus in Stadtmitte). Die RTW-Besatzung kommt in die Wohnung eines chinesischen Ehepaars mit 2 Kindern im Alter von 4 und 6 Jahren. Eine 45-jährige Chinesin wird auf der Couch liegend vorgefunden. Leicht blasser Hautaspekt, leicht erhöhte Atmfrequenz, sie hat die Augen geschlossen. Der Ehemann verfügt über sehr geringe Deutschkenntnisse und auch ein Versuch der Kommunikation auf Englisch schlägt fehl. Die beiden Kinder sprechen einige Worte Deutsch.

Durch kindgerechtes Befragen und viel nonverbaler Kommunikation mit Gestikulieren können die Notfallsanitäter die Vorgeschichte von den beiden Kindern in groben Zügen ermitteln:

Vorgeschichte:

Nach Angaben der Kinder sei es ihrer Mutter bereits seit einigen Tagen nicht so gut gegangen, sie habe sich oft hinlegen müssen und habe auch hin und wieder über Kopfschmerzen geklagt.

Am heutigen Vormittag sei dann stärkere Übelkeit mit wiederholtem Erbrechen eingetreten. Es sei ihrer Mutter dann schwindelig geworden mit Gefühl wie auf einem Karussell.

Das Erbrochene sei nicht rötlich oder dunkel gewesen und sei bereits in der Toilette entsorgt worden.

Die Abfrage nach gleichzeitig aufgetretenem Durchfall wird zunächst bejaht, dann aber wieder verneint.

Als Vorerkrankung kann die Patientin dann (nach Weitergabe der Anfrage durch ihre Kinder) überraschenderweise einigermaßen verständlich eine vorbekannte „Blutarmut“ angeben.

Erstbefund:
Die 45-jährige Patientin ist bei geschlossenen Augen sofort erweckbar. Das Sprechen fällt ihr schwer. Bei unzureichenden Deutschkenntnissen der Patientin ist die Zustandsermittlung deutlich erschwert. Pupillen mittelweit isocor, Reaktion auf Licht und Konvergenz prompt. Kein Nystagmus erkennbar. Bei der weiteren Erstuntersuchung kein auffälliger Foetor, insbesondere kein Foetor alkoholicus. Blutdruck 120/70 mmHg, Puls 75 / Minute. Rhythmische Herzaktion. Pulsoxymetrie: SaO2 98 %.

Die Prüfung des FAST-Test ist bei erheblichen Verständnis- und Umsetzungsschwierigkeiten der Patientin (auch nach Vorturnen) nur eingeschränkt verwertbar. Die Armhebung zeigt keine Seitendifferenz und keine Pronationsneigungen der Arme.

Erstmaßnahmen:
Blutzucker-Stix nur mit Lanzette aus der Fingerkuppe möglich, da die Patientin einen miserablen peripheren Venenstatus hat: 110 mg /dl. Selbst 22 G-Verweilkanülen lassen sich nicht platzieren. Die Patientin hat sich dann spontan vom Liegen zur sitzenden Position aufgerichtet.  Daraufhin erfolgt nun der Transport in den RTW mit dem Transportstuhl.

Kann problemlos auf die RTW-Trage transferiert werden bei allerdings leichter Standunsicherheit.

Von der Einsatzstelle aus könnten mehrere Kliniken (auch mit breiterem Versorgungsspektrum) angesteuert werden.

Während des RTW-Transports ist bei der der Patientin eine leichte Zunahme der Benommenheit festzustellen Die Patientin ist jedoch zu jeder Zeit erweckbar.    

Vitalparameter unverändert zum Erstbefund. Pupillen weiterhin mittelweit isocor, Reaktion auf Licht und Konvergenz prompt. Kein Nystagmus erkennbar. Kein Würgereiz während der Transportphase.

Schwierige Situation… eher unklare Vorgeschichte bei Fremdsprachigkeit…Symptomatik zunächst eher schwer zuzuordnen.

Verdachtsdiagnose?

Zielklinik?

Max Hochstein

Notfallsanitäter

 

4 thoughts on “Fall des Monats Juli 2024

  1. Hallo zusammen,

    alles in Allem ja stabil und wenig spektakulär.
    Als Kinderarzt denke ich a) ß-HGC b) HNO (Drehschwindel, fehlt nur der Nystagmus) c) Dehydratation /GE /oä.

    Bin gespannt auf die Lösung
    Liebe Grüße
    Frank

  2. Moin in die Runde,

    mir schießen ein paar Differentialdiagnosen in den Kopf:
    Neurologisch: Sinusvenenthrombose, passend zu einem subakuten Verlauf, mittlerweile wohl möglich mit beginnendem Hirndruck (Erbrechen?)

    Infektiös: stattgehabter Auslandsaufenthalt? Malaria? Meningitis?

    Der Fakt das “überraschenderweise verständlich” die Blutarmut angegeben werden konnte, lässt mich daran denken, dass diese vielleicht einer chronischen Erkrankung zu Grunde liegt und die Patientin daher gut Bescheid weiß? zB Sphärozytose oder G6DP-Mangel als gar nicht allzu seltene angeborene Störungen. Die können zB in Infektsituationen hämolytische Krisen mit ähnlicher Symptomatik verursachen. Aber das ist vermutlich eher abwegegiges Internistengeschwafel.

    Bin ebenfalls gespannt auf die Auflösung.

  3. Insgesamt unspezifisches Beschwerdebild bei schwieriger Anamnese. Stabile Vitalparameter.
    Arbeitsdiagnose: Unklare Vigilanzminderung.
    Neben den genannten internistisch/neurologische Differenzialdiagnosen kommt mir noch eine CO-Intoxikation in den Sinn. Würde die meisten Symptome erklären (Möglicherweise erhöhte Anfälligkeit aufgrund der „Blutarmut“?)
    Symptome bei anderen Bewohnern vorhanden?
    Zeigen die CO-Warner (falls vorhanden) etwas an? Besteht die Möglichkeit per Fingerclip das CO-Hb vor Ort zu messen? Alternativ Verdachts-Differentialdagnose in der Zielklinik mitteilen zwecks Ausschluß/Bestätigung per BGA.
    Zur Zielklinik: Innere, Neurologie mit CT, Labor, Intensivstation sollten vorhanden sein.
    Unter meiner Verdachts-Differentialdiagnose hochdosierte O2-Gabe bis zum Ausschluß.

  4. Es bietet sich ein breites Spektrum an Diagnosen. Der Zustand der Patientin ist stabil, da hat Frank sicher recht. Und Alex hält eine neurologische Ursache für möglich, womit er und Kay hinsichtlich der Zielklinik komplett richtig liegen. Der chronische Erkrankungsverdacht von Alex hat sich letztendlich auch bestätigt. Und Kay’s Verdacht auf eine CO-Intoxikation ist sicherlich auch interessant. Die CO-Warner haben aber nicht Alarm geschlagen und die anderen Mitbewohner waren symptomlos gewesen.

    Weiterer Verlauf des Juli-Falls 2024:

    Der RTW steuert eine Klinik an mit größerem Versorgungsspektrum einschließlich neurologischer Abteilung. Beim Transport hat die Patientin ihre Augen geschlossen. Es ist zuletzt eine leicht zunehmende Benommenheit feststellbar. Die RTW-Mannschaft wird nach Übergabe der Patientin in der ZNA zeitnah zu einem Folgeeinsatz alarmiert.
    Nach erneutem Ansteuern dieser Klinik in einem anderen Fall können die beiden Notfallsanitäter des RTW’s in Erfahrung bringen, dass die Patientin bei zunehmender Eintrübung und Aspirationsereignis intubiert und kontrolliert werden musste. Es ist eine notfallmäßige Verlegung in die neurochirurgische Universitätsklinik eingeleitet worden. Diagnose nach apparativer Primärdiagnostik : Stammhirnblutung.
    Bei späterer Abfrage in der Universitätsklinik wird folgender Krankheitsverlauf nachvollziehbar: Von den Neurochirurgen der Universitätsklinik konnte nach Kontaktaufnahme mit der Hausärztin ein bei der Patientin bestehender Lupus erythematodes in Erfahrung gebracht werden.
    Lupus erythematodes zählt zu den systemischen Autoimmunerkrankung, die zu den Kollagenosen gehört.
    Das American College of Rheumatology (ACR) hat eine Liste mit elf Kriterien für Lupus definiert. Zu diesen Kriterien zählen Blutbild-Anomalien wie die hämolytische Anämie, die Leukozytopenie, die Lymphozytopenie oder die Thrombozytopenie.
    Die Thrombozytenzahl der Patientin lag bei 1000/mm3. Bei der 45-jährigen Frau ist es nach Auswertung der apparativen Diagnostik bereits zu mehreren thrombozytopenischen Hirnblutungen gekommen mit aktuell nun zunehmend raumfordernder Wirkung. Im MRT zeigen sich occipital Hinweise auf ältere intrakranielle Einblutungen.

    Parallel zur Substitution der Thrombozyten wird eine Therapie mit dem monoklonalen Antikörper Rituximab eingeleitet.
    Nach erneuter Verlaufsabfrage konnte die Sedierung der kontrollierten Beatmung der Patientin am 5. stationären Tag reduziert werden mit erkennbar gerichteten Augenmanövern und Befolgen von Aufforderungen. Nach weiteren 8 Tagen ist eine Extubation der 45-jährigen Frau möglich und die Patientin kann adäquat kommnuizieren.

    Der aktuelle Fall war aufgrund der unspezifischen Primärsymptomatik und der Fremdsprachigkeit der Patientin und deren Angehörigen schwer einzuschätzen, hat aber letztendlich doch noch einen positiven Verlauf genommen.

    Max Hochstein
    Notfallsanitäter

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