Arbeitsgemeinschaft Notärzte in Nordrhein-Westfalen

Alarmierungsmeldung / Samstag früh 09:00 Uhr:

Verkehrsunfall auf der Autobahn mit verletzter Person (nicht eingeklemmt). Eintreffen des NEF an der Unfallstelle 12 Minuten nach Alarmierung. Die Autobahnpolizei ist bereits vor Ort.

Situation an der Einsatzstelle:

PKW-Überschlag auf regennasser Autobahn. Ein Mittelklasse-PKW liegt auf dem rechten Seitenstreifen der Autobahn auf dem Dach. Trotz Überschlags ist nur mäßige Deformierung der Fahrgastzelle erkennbar, zusätzlich besteht ein frontaler Blechschaden. Die PKW-Führerin (als einzige PKW-Insassin) konnte sich bereits ohne Fremdhilfe aus dem Unfall-PKW befreien und sitzt auf dem Beifahrersitz des Streifenwagens.

Angaben zum Unfallhergang:

Die 36-jährige PKW-Führerin ist orientiert. Keine Erinnerungslücke. Die Unfallverletzte berichtet über einen Überschlag auf regennasser Fahrbahn bei Tempo 160 km/h ohne Fremdbeteiligung. Vor dem Überschlag noch frontaler Kontakt mit einem Autobahnschild. Die PKW-Fahrerin war angeschnallt. Trotz dieser Gewalteinwirkung hatte der Airbag-Steuerkreis nicht ausgelöst.

Aktuelle Beschwerden:

Keine Wirbelsäulenschmerzen. Keine peripheren Sensibilitätsstörungen und kein Schwächegefühl im Arm-/ Beinbereich. Auch Kopf- und Nacken-Schmerzen und werden verneint. Keine Schmerzen im Abdominalbereich und der Beckengegend.

Die PKW-Führerin klagt über Schmerzen im li. Schultergürtelbereich und über mäßige linksbetonte Atembeschwerden.

Befund der Erstuntersuchung:

Druckdolenz und mäßige Schwellung über dem li. Schlüsselbeinverlauf mit tastbarer Konturstufe mittleres Claviculaschaft-Drittel.

Bei der 36-jährigen Frau besteht eine mäßige Dyspnoe und Tachypnoe. Atemfrequenz 16 / min. Keine zentrale oder periphere Zyanose. Bei Inspiration und Exspiration sind mittelblasige Rasselgeräusche auf Distanz hörbar.

Die Unfallverletzte kann sich bei der Befragung durchaus noch in längeren Sätzen (ohne Dyspnoe-Pausen) äußern.

Seitengleiche Atemexkursionen beider Thoraxhälften. Keine Einziehungen der Thoraxwand bei den Atembewegungen. Thoraxwand bei palpatorischer Prüfung bds.stabil, keine Krepitationen. Keine Hinweise für ein Hautemphysem im Bereich des Thorax. Bei der Thoraxauskultation sind mittelblasige RG’s über den Mittelfeldern (li.deutlicher als re.) hörbar. Kein abgeschwächtes Atemgeräusch. Keine Anhaltspunkte für das Vorliegen eines Pneumothorax.

Ableitung eines EKG’s:  Sinustachykardie mit Frequenz um 110 /min. Keine Arrythmie. RR: 110/80 mmHg. SaO2-Wert beträgt 84 %.

(EKG-Kopie ist leider im Nachhinein nicht mehr aus dem Speicher des Geräts zu gewinnen gewesen).

Das Ultraschallgerät des NEF ist bei vermutlichem Kabelbruch im Scanner-Verbindungskabel ärgerlicherweise nicht nutzbar.

Deutliche quere Gurtmarke im Abominalbereich. Bei der Untersuchung der im RTW liegenden Patientin unauffälliger Aspekt der Extremitäten und – abgesehen von einersSchmerzhaft eingeschränkten Schulterbeweglichkeit links- freie Gelenkbeweglichkeit  der Extremitäten. Wirbelsäule unauffällig.

Kein Beckenkompressionsschmerz. Auffällig ist eine mäßige Blutspur in der Unterwäsche. Keine aktive Blutung erkennbar. Schwangerschaft oder anstehende / bestehende Periode werden verneint.

Kein Druckschmerz suprapubisch. Kein Nierenlagerklopfschmerz.

 

Erstmaßnahmen:

Anlage eines peripheren i.v.-Zugangs und primäre Sauerstoffgabe über O2-Brille.

Intravenöse Analgesie. Unter der Sauerstoffgabe mit einem Flow von 8 Litern/min ist eine leichte Besserung der Tachypnoe/ Dyspnoe feststellbar. Die Sauerstoffsättigung klettert im Verlauf von 5 Minuten langsam auf Werte von 90 %. Subjektiv leichter Rückgang der Atembeschwerden. Atemfrequenz nun bei 14/ min. Die Unfallverletzte kann bei Befragung auch weiterhin in längeren Sätzen antworten. Die mittelblasige RG`s sind weiterhin (li.deutlicher als re.) hörbar.

RR 110/80 mmHg, Herzfrequenz 110/min.

 

 

Weitereres Procedere?

Transportmittel?

Zielklinik?

 
 

Dr. Gerrit Müntefering
Arzt für Chirurgie / Unfallchirurgie / Notfallmedizin
Lessingstr. 26
47445 Moers

 

 

 

 

5 thoughts on “Fall des Monats Mai 2024

  1. Auch wenn es scheint, als ob die Fahrerin sehr viel Glück gehabt und relativ unbeschadet einen sehr schweren Unfall überstanden hätte, ist hier was im Busch:
    selbst bei weniger deutlichen Hinweisen auf entstehende Probleme wäre die Patientin für mich immer ein Polytrauma bis zum Beweis des Gegenteils.
    Nach der Beschreibung in diesem Falle scheint ein akutes Abdomen sowie ein Hämatothorax möglich bzw. wahrscheinlich; mit einer rapiden Verschlechterung der Patientin ist zu rechnen.

    Daher:
    – Versorgung nach Polytrauma- Leitlinie, insbesondere Anlage eines Beckengurtes zur Komprimierung des potentiellen Blutungsraumes, Anlage von großlumigen Zugängen (mindestens 2), Vorbereitung zur Intubation bei spontaner Verschlechterung; Immobilisation auf Vakuummatratze wäre aufgrund der Dyspnoe kritisch zu prüfen, ob adäquat
    – meine persönliche Präferenz wäre eine bestmögliche Oxygenierung, in diesem Fall mit O²- Maske und Reservoirbeutel, um ein wenig mehr Zeit und Reserven zu haben für den Fall einer Dekompensation
    – arztbegleiteter Transport in den voralarmierten Schockraum eines Maximalversorgers
    – abhängig von den örtlichen Gegebenheiten, der Verfügbarkeit von Schockraum, Transportmittel und den Transportwegen wäre abzuwägen, ob ein Hubschraubertransport einen (zeitlichen) Vorteil bringen könnte – was aufgrund der Nachalarmierungssituation ja oft nur bei weit entfernten Zielkliniken der Fall ist

    Nicht vergessen werden sollte bei solchen Unfällen, dass diese noch vor wenigen Jahren oder in älteren Fahrzeugen regelhaft zu sofort erkennbaren, schwersten Verletzungen, Einklemmungen oder Todesfällen geführt haben. Moderne Fahrzeugtechnik kann zwar viel kompensieren, allerdings auch nicht die Grenzen der Physik aufheben…

    Ich bin gespannt auf die tatsächliche Entwicklung des Falles!

    1. Ich würde die Beckenschlinge nur so ausrichten, dass man sie anlegen kann. Die Patientin hat noch keine Schocksymptomatik, die auf einen hämorrhagische Ursache zurückführen lässt. Deswegen laut aktueller Polytrauma-Leitlinie nach dem S-KIPS Schema der maifestierte Schock hierbei zu beachten. Wir haben keine Schmerzen oder Instabilität im Beckenbereich. Das einzige wäre die Kinetik.

      Bei dem Rest gehe ich mit. Sehr wichtig auch die O2-Maske mit Reservoir-Beutel! Liebe Grüße!

  2. John Alexander stimme ich in vielen Punkten zu: Da ist was im Busch, auf plötzliche Verschlechterung vorbereitet sein.
    Der Unfallhergang ist mir noch unklar (Auslöser? Wann genau kam das Schild ins Spiel?), hoffentlich kann die Fahrerin dazu genauere Angaben machen. Wenn der Airbag bei einem Frontalaufprall nicht ausgelöst hat, sind stärkere Verletzungen durch den Bremseffekt des Gurtes wahrscheinlich.
    A/B: Sehr auffällig ist die schlechte Sättigung, die auch nach Sauerstoffgabe nur zögerlich ansteigt. Meine Arbeitsdiagnose ist eine Lungenkontusion mit Einblutung ins Bronchialsystem (RGs).
    C: Ungünstiges HF/RR-Verhältnis. Wie ist die ReCap-Zeit? Blässe, Kaltschweißigkeit? Vermutlich blutet die Patientin ein, mindestens thorakal, vermutlich auch im Abdominal- u/o Beckenbereich. Zumindest fehlt mir gerade die Phantasie für eine andere Genese der Blutspur im Anogenitalbereich außerhalb der bereits verworfenen Möglichkeiten.
    D: Scheint ok. Pupillen? Übelkeit/Schwindel? Unmittelbar nach einem Erlebnis, wie es hier vorliegt, würde ich den Angaben der Patientin z.B. zur Schmerzsituation im Sinne einer „ablenkenden Verletzung“ mit einer Prise Skepsis begegnen.
    E: Clavicula-#. Gurtmarken abdominal. Körpertemperatur? Z.n. Hochrasanztrauma.
    Kurze Abklärung der VE/EM/Allergien => irgendetwas Beachtenswertes?
    Procedere: Kritische Patientin => Ein zügiger Transport in einen Trauma-Schockraum (ÜTZ lieber als RTZ) hat hohe Priorität.
    @Blutungsproblematik: Zur Aufrechterhaltung der Gerinnung: Pat. warmhalten. Vorgewärmte Infusion in mittlerer Geschwindigkeit im Sinne einer permissiven zu erwartenden Hypotension. Einen zweiten Zugang gerne im Verlauf. Tranexamsäure 1g als Kurzinfusion auf dem Transport. Eine Beckenschlinge soll nur bei Kreislaufinstabilität angelegt werden, die hier nicht sicher gegeben ist (siehe auch fehlende Infos zu C) und evt. auch gar nicht aus einer Blutung im Beckenbereich, sondern von thorakal stammt… Ich finde die Entscheidung schwierig, würde aber eher zur Anlage der Beckenschlinge neigen. Ich gehe davon aus, dass sich die Kreislaufsituation noch verschlechtern wird. Eine Voll-Immobilisation bei Patienten, die zuvor herumgelaufen sind, finde ich immer komisch, aber die Kinematik hier gibt es her. Transport in Intubations- und Absaugbereitschaft mit weitergeführter Sauerstoffgabe. Wenn der luftgebundene Transport einen erheblichen Zeitvorteil bietet, muss eine primäre Intubation erwogen werden. Analgesie nach Bedarf (bis NRS <5), gerne mit Fentanyl.

  3. Sorry für die sehr späte Meldung ( Peinlich, peinlich ! der Juni ist schon fast vorbei !! ) …die Auflösung war primär termingerecht fertiggestellt, aber ist irgendwie trotz 2 Versuchen (auch beim 2. Versuch Mitte Juni) nicht online gegangen.

    Mea culpa ??

    Weiterer Verlauf des Mai-Falls 2024 :

    Steffi und John liegen mit ihrer Arbeitsdiagnose durchaus richtig

    Die Recap-Zeit 2 lag bei Sekunden. Nach Anlage eines weiteren intravenösen Zugangs erfolgt als Transportvorbereitung die Bereitstellung der Utensilien und Medikation zur endotrachealen Intubation. Auflegen einer Wärmedecke. Erhöhung der Sauerstoffgabe auf einen Flow von 10 l/min. NIV-Therapie wird erwogen, aber von der Patientin nach Aufklärung zum Procedere der CPAP-Behandlung ausdrücklich nicht gewünscht.

    Auch die präklinische Gabe von Tranexamsäure wird kurz andiskutiert, aber bei kurzem Anfahrtsweg in die Klinik zurückgestellt. Die Unfallverletzte wird im Schockraum der nahegelegenen Zielklinik (regionales Traumazentrum mit Urologischer Abteilung) mit V.a. Lungenkontusion und Hochrasanztrauma vorangemeldet.

    Die in der ZNA veranlasste Röntgendiagnostik zeigt eine mäßig dislozierte Claviculaschaftfraktur li (Gurtverlauf) sowie Zeichen einer Lungenkontusion bds ( li. deutlicher re.) mit beginnender linksseitiger Pleuraergußbildung. Die E-Fast-Sonografie ist – abgesehen von der linksseitigen Pleuraergussbldung – unauffällig. Im Notfall-CT zeigt sich ein unauffälliger Befund des Abdomens, des Retroperitoneums und beider Nieren. Wirbelsäule und Becken werden radiologisch ohne Frakturanhalt gescreent. Der Hb-Wert liegt bei Aufnahme allerdings bei 9,8 g/dl. Urinuntersuchung erstaunlicherweise ohne Nachweis einer relevanten Hämaturie. Die orientierende urologische Erst-Untersuchung verläuft ohne interventonsbedürftigen Befund, wohl auch unauffälliger Aspekt des Introitus.

    Bei tendentieller Verschlechterung der Blutgase muss in der darauffolgenden Stunde die endotracheale Intubation der 36-jährigen Frau auf der Intensivstation erfolgen. Im gelegten Blasenkatheter ist kein blutiger Urin drainierbar. Es erfolgt die zeitnahe RTH-Verlegung der Patientin in die 30km entfernte Unfallklinik mit bekanntermaßen guter thoraxchirurgischer Expertise.

    Die Patientin wird auf der Intensivstation der weiterbehandelnden Unfallklinik aufgenommen.

    Die Röntgen-Aufnahmen (knöcherner Thorax) und das Thorax-CT zeigen keine Rippenfrakturen. Die Claviculafraktur kann konservativ behandelt werden. Der linksseitige Pleuraerguß wird durch eine Thoraxdrainage suffizient entlastet.

    Bei progredientem Anaemie-Befund ist im weiteren Verlauf der Intensiv-Betreuungsphase mehrmalig die Gabe von Erythrozyten-Konzentraten erforderlich.

    Nach 6-tägiger Beatmungsphase kann die Patientin vom Respirator entwöhnt und extubiert werden. Die Thoraxdrainagen werden am 7. Tag entfernt.

    Der primäre Blutnachweis im Introitusbereich ist unklar geblieben.

    Am 14. Tag nach dem Unfallereignis kann die bei der Remobilisation hochmotivierte Patientin nach erfolgreicher intensivierter Atemgymnastik weitgehend beschwerdefrei aus der stationären Behandlung der Unfallklinik entlassen werden.

    Kurze Anmerkung zur Pathophysiologie der Lungenkontusion:

    Wird das Lungengewebe durch eine stumpfe oder penetrierende Krafteinwirkung verletzt oder zerrissen, kann dieses Trauma zu einer Einblutung in die Alveolen führen.

    Durch Einblutung und Ödembildung in den Alveolen und im Interstitium sinkt die Lungencompliance. Der führende pathophysiologische Mechanismus besteht im eingeschränkten Gasaustausch, da diese Alveolen nicht mehr belüftet werden. Zusätzlich erschweren Blut und Ödeme im Lungengewebe zwischen den einzelnen Alveolen aber auch in den noch ventilierten Arealen den Gasaustausch.

    Die pulmonale Shuntfraktion erhöht sich, wodurch der arterielle Sauerstoffpartialdruck (pO2) sinkt. Der pulmonal-arterielle Widerstand steigt, woraus ein verminderter pulmonaler Blutfluss resultiert.

    Im aktuellen Fall ist die Lungenkontusion ohne Rippenfrakuren aufgetreten.

    Dr. Gerrit Müntefering
    Arzt für Chirurgie / Unfallchirugie / Notfallmedizin
    Lessingstr. 26
    47445 Moers

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