Arbeitsgemeinschaft Notärzte in Nordrhein-Westfalen

Alarmierungsanruf bei der Polizeiwache am Montag um 17:30 Uhr:

Ein männlicher Anrufer berichtet, dass er seine alleinlebende Mutter in ihrer Wohnung in einer Art Schockstarre vorgefunden habe. Er vermute eine vorangegangenes Ereignis mit Fremdeinwirkung (versuchter Einbruch, Tätlichkeit durch Dritte) als Ursache dieser Verhaltensauffälligkeit.

Eine Polizeistreife wird zur Wohnung geschickt. Sie finden eine 68-jährige Frau im Schlafzimmer der Etagenwohnung auf der Bettkante sitzend vor. Die Frau registriert die Beamten zwar mit verlangsamter Blickwendung. Eine Kommunikation ist jedoch trotz wiederholter Ansprache nicht möglich. Auch der Aufforderung der Beamten zum kurzen Aufstehen kommt die Frau nicht nach. Sie kann jedoch auf einfache Fragen mit Kopfnicken / Kopfschütteln reagieren, wobei die Reaktionen nicht immer adäquat sind.

Eine im Vorfeld abgelaufene Straftat (Einbruch, Tätlichkeit) lässt sich bei im Rahmen der Befragung (vorformulierte Fragen mit Gestik-Antwortmöglichkeit) und bei Inspektion der Wohnung nicht erkennen.

Aufgrund der Verhaltensauffälligkeit der Frau wird von den Polizeibeamten die Rettungsleitstelle alarmiert.

Erstuntersuchung:

Die alarmierte RTW-Besatzung findet die übergewichtige 68-jährige Frau in unverändertem Zustand auf der Bettkante sitzend vor. Vitalparameter unauffällig: RR 135 / 90 mmHg, Puls 78 / Min rhythmisch, SaO2: 92 % , BZ-Stix: 110 mg/dl.

Kein A-Problem, kein B-Problem, kein C-Problem.

Weiterhin verlangsamte, aber gerichtete Kopfdrehung auf Ansprache.

Arm- und Beinbewegungen sind auf Aufforderung verlangsamt, aber noch adäquat vorführbar.

Ein kurzes Aufstehen kann allerdings nicht ohne beidseitige Fremdhilfe erreicht werden.

Die Patientin sei – nach Angaben der Söhne – bisher im Wohnbereich zwar etwas verlangsamt mit zeitweiligem Abstützen, aber durchaus noch zufriedenstellend gehmobil gewesen.

Bei weiterhin unklarer Situation erfolgt die Nachalarmierung des Notarztes.

Weitergehende Anamnese-Erhebung bei nun möglicher Befragung beider Söhne vor Ort:

Nach Eintreffen des Notarztes ist die Polizeistreife bereits wieder abgerückt. Die mittlerweile anwesenden beiden Söhne der Patientin werden zur Vorgeschichte ihrer Mutter befragt.

Nennenswerte Vorerkrankungen seien nicht bekannt. Die Mutter sei allerdings auch nie zum Hausarzt gegangen.

Vor ca. 2 Jahren habe einmal eine auffällige Phase mit kurzzeitiger Bewegungsstörung und Schwäche auch zu einer Notarztalarmierung geführt. Die Frau habe jedoch die dringlich empfohlene Krankenhausaufnahme und Diagnostik damals abgelehnt.

Kreislauf- oder Stoffwechselerkrankungen sind nicht bekannt.

Sie habe jedoch bei mäßiger Depression nach Tod des Ehemanns vor 4 Jahren überwiegend vor dem Computer mit Kommunikation über Social media.

Auf weitergehende Abfrage wird von den Söhnen schließlich ein regelmäßiger, aber angabegemäß moderater Alkoholkonsum und Nikotinabusus der Patientin mitgeteilt.

Befundentwicklung bei der anschließenden Kontrolluntersuchung:

 Vitalparameter weiterhin unauffällig: RR 140/85 mmHg, Puls 80 / Min rhythmisch, SaO2: 93 %

Extremitäten-EKG unauffällig mit normfrequentem Sinusrhythmus ohne Kammerendstreckenveränderungen

Temperatur mit dem Ohrthermometer: 37, 2°c

Neurologisch orientierende Untersuchung:

Pathologischer Fast-Test bei fast fehlender Artikulation:

Lediglich einmal vermeint man bei der Abfrage nach Schmerzen ein „Nein“ zu hören.

Stirnrunzeln und Augenbrauenheben werden zufriedenstellend demonstriert.

Leicht verlangsamte Pupillenreaktion auf Licht und Konvergenz.

Das „Mundspitzen“ bzw. Pfeifen ist allerdings auch bei mehrmaliger Aufforderung und Vordemonstration nicht vorführbar. Leichte periorale Hypomimie. Kein einseitig hängender Mundwinkel.

Arm- und Beinmotorik einschließlich Kraftentwicklung verlangsamt und erkennbar zielgerichtet prüfbar. Armvorhalteversuch ohne Seitendifferenz zu testen.

Das Aufstehen zum kurzzeitigen Stand ist nicht ohne Fremdhilfe vorführbar.

Beim leicht unterstützten Stand sind aber anschließend keine Gleichgewichtstörungen erkennbar.

Ein zeitnaher Transport ins Krankenhaus zur weitergehenden klinischen und apparativen Diagnostik wird der Patientin angeraten.

Von der Patientin wird diese Aufforderung jedoch mehrfach mit Kopfschütteln abgelehnt.

 

Verdachtsdiagnose?

Weiteres Procedere?

Dr. Gerrit Müntefering
Arzt für Chirurgie / Unfallchirurgie / Notfallmedizin

Lessingstr. 26
47445 Moers

 

2 thoughts on “Fall des Monats Juni 2024

  1. Interessanter und kniffeliger Fall insbesondere als nicht-Neurologe. Ich versuche mich mal im freien Assoziieren.
    Mein erster Verdacht geht in Richtung einer neurodegenerativen Erkrankung:
    -Myasthenia Gravis. Nach Angaben des Sohnes scheint schon länger eine verlangsamte Beweglichkeit mit vermehrten Abstützen zu beobachten gewesen(was ich für 68 nicht alterstypisch finde). Anscheinend gab es in der Vergangenheit schonmal eine ähnliche „Episode“. Die Symptomatik kann fluktuieren. Interessant wäre hier noch die Atemfrquenz mit Frage nach Beteiligung der Atemhilfsmuskulatur bei Sättigung im unteren Grenzbereich.

    -Parkinson-Syndrom: Hypomimie, eine stattgehabte Depression als fragliches Frühsymptom. Fehlend hierfür formell Tremor und Rigor (fraglich, ob spezfifisch getestet?)

    Andere Vermutungen:
    -(Sub-)akute Ischämie; neben der Sprachproduktionsströrung zwar kein sepzifisches fokal-neurologisches Defizit, aber man weiß nie!
    -Intoxikation, der Notfallhergang ist für mich schwammig (wieso spricht der Sohn von Fremdbeteiligung, war er vielleicht sogar involviert??)
    -Tatsächlich „nur“ psychogen im Rahmen einer akuten Belastungsreaktion auf ein unklares Ereignis

    Procedere:
    Ich würde die Patientin im Zweifel auch gegen ihren (vermeintlichen) Willen in ein Krankenhaus mit einer neurologischen Abteilung transportieren. Zum einen werden ihre Reaktionen in der Untersuchung als nicht immer adäquat beschrieben, sodass in Zusammenschau mit der schwer eingeschränkten Sprachproduktion fraglich ist, ob die Pat. die Folgen einer Nicht-Vorstellung überblicken kann. Darüber hinaus ist eine selbstständige Mobilisierung in den Stand nicht möglich, sodass eine Selbstversorgung zu Hause aktuell nicht möglich erscheint.
    Im Krankenhaus dann professionell-neurologische Untersuchung, BGA+Blutentnahme, kranhelle Bildgebung, ggfs. Liquorpunktion, ggfs. psychiatrische Vorstellung.

    Bin gespannte auf andere Einschätzungen.

  2. Nochmals Entschuldigung für die späte Präsentation der Auflösung des Mai-Falls, der bei 2-maligen Sendeversuchen – warum auch immer – nicht online gegangen ist. Es waren keine verbotenen oder anrüchigen Begriffe im Text gewesen, die eine Überwachungssoftware in den SPAM-Ordner geschickt hätte.
    Danke nochmals an Steffi für die Info !!

    Weiterer Verlauf des Juni-Falls 2024 :

    Sehr strukturierte Fallanalyse von Alex, die Myasthenia gravis wäre eine interessante Differenzialdiagnose und hätte im Falle einer Benzodiazepin-Gabe zu problematischen Situationen führen können !

    Nach eindringlicher Ansprache des Notarztes an die anwesenden Angehörigen der Patientin zur Dringlichkeit der weiteren stationären Abklärung können die Söhne ihre Mutter letztendlich doch in einem sehr streng geführten 6-Augen-Gespräch zu einer weiteren Überwachung und Diagnostik im Krankenhaus überreden.
    Die Patientin wird in eine Klinik mit neurologischer Abteilung und Stroke unit transportiert.
    Der Transport verläuft ohne Zustandsänderung und ohne Komplikationen.
    Bei der Laborabnahme in der Zentralen Notaufnahme werden erhöhte Leberwerte und bei eingeleitetem Drogen- und Toxin-Screening ein Alkoholspiegel von 1,6 Promille festgestellt (Obwohl ein auffälliger Foetor alkoholicus primär nicht feststellbar gewesen war). Außerdem beim Toxin-Screening ein erhöhter Blutspiegel des Benzodiazepinderivates Lorazepam mit Plasmaspiegel von 360 ng/ml (Toxischer Grenzwert ab 400 ng/ml) . Die Söhne der Patientin werden hiervon in Kenntnis gesetzt. Die Söhne setzen sich mit dem Hausarzt ihrer Eltern in Verbindung. Bei bestätigter Gesundheitsvollmacht der beiden Söhne ist der Hausarzt auch auskunftsfähig. Es stellt sich heraus, dass für den verstorbenen Ehemann zuletzt wohl bei Schlafstörung eine Medikation mit Lorazepam verordnet worden war. Anscheinend ist wohl ein nicht unbeträchtlicher Tablettenbestand der sedierenden Medikation nach dem Tod des Ehemanns in der Wohnung verblieben. Eine bewusst überdosierte Tabletteneinahme durch die Mutter ist aufgrund dieser Konstellation nicht auszuschließen.
    Das von neurologischer Seite zeitnah veranlasste Schädel-CT ergibt dann überraschenderweise eine zunächst nur schwach imponierende Infarktzone im Versorgungsbereich der Art. cerebri media links bei Markoangiopathie, die auf der Controll-CT-Aufnahme am Folgetag dann noch deutlicher zur Darstellung kommt. Bei der Patientin kann im rahmen der weiteren Diagnostik eine mäßige A. carotis interna-Stenose bds. festgestellt werden
    Akute Revaskulisierungsmaßnahmen werden von neurologischer Seite im aktuellen Fall nicht als sinnvoll angesehen.
    Relevante sensomotorische Ausfälle der Gesichtsregion und der Extremitäten sind nicht feststellbar, allenfalls eine diskrete und rasch regrediente Beinschwäche bds.
    Durch zeitnah eingeleitete logopädische Behandlungsmaßnahmen kann die Artikulationsstörung der Vers. bereits nach 2 Tagen zur vollständigen Restitution gebracht werden ( Die erhebliche Artikulationsstörung bei der Erstuntersuchung war wohl maßgeblich bedingt durch Alkoholwirkung in Kombination mit dem Lorazepam-Wirkspiegel).
    Relevante Schluckstörungen bestehen nicht. Die Nahrungsaufnahme klappt gut.
    Die Patientin distanziert sich energisch von Suizidabsichten.

    Eine psychiatrische Konsiliaruntersuchung wird von der Patientin strikt abgelehnt.

    Bei wiedererlangter Gehmobilität über kurze Wegstrecken verlässt die Patientin am 4.Tag die Klinik auf eigenen Wunsch und gegen ärztlichen Rat und ohne mögliche Einflussnahme ihrer Söhne.

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