Fall des Monats Dezember 2022

Alarmierungsmeldung Montag 21:30 Uhr:

Das NEF hat sich nach Feststellung eines nicht begleitungsbedürftigen Patiententransports einsatzbereit gemeldet und wird von der Leitstelle zur Rettungswache zurückgeordert zur Unterstützung der RTW-Besatzung bei einer Patientin mit wiederholtem Krampfanfall.

Angabe der RTW-Besatzung zum Notfallereignis:

Die Rettungswache liegt in unmittelbarer Nähe der hausärztlichen Notdienstpraxis, die aber aufgrund von mehreren akut aufgetretenen Corona-Infektionen des dortigen Personals zum aktuellen Zeitpunkt noch nicht wieder handlungsfähig ist.

An der Rettungswache hat nun 1 Pärchen sturmgeschellt – wohl nach vergeblichem Kontaktversuch mit der Notdienstpraxis. Der männliche Begleiter gibt an, dass mit seiner Partnerin etwas nicht stimmen würde. Sie würde seit 2 Stunden nur noch verlangsamt reagieren und habe im Gesichtsbereich wiederholt gezuckt. Vom äußeren Aspekt der beiden Hilfesuchenden her, wird von der RTW-Besatzung ein möglicher Drogen-Abusus nicht ausgeschlossen und nach einer vorangegangenen Rauschmitteleinnahme gefragt. Der Begleiter teilt mit, dass seine Partnerin Heroin rauchen würde. Der Mann wird plötzlich nervös, teilt den Namen seiner Partnerin mit und verschwindet dann ohne weitere Informationen.

 

Erstbefund der RTW-Besatzung:

Die RTW-Besatzung steht einer zunehmend somnolenten ca. 40-jährigen Frau gegenüber, die dann gerade noch – beidseitig gestützt – in den RTW transportiert werden kann. Der Erstbefund gemäß ABCDE-Schema erhoben. A, B oder C-Probleme bestehen nicht. Atemwege frei. Keine Dyspnoe, keine Zyanose SpO2: 97 %. 12 Atemzüge / Minute, Kreislaufscreening RR : 125 / 80 mm HG , Puls 90 /min rhythmisch. BZ-Stix: hi > 500 mg /dl. Ein Augenöffnen kann noch durch sehr laute Ansprache motiviert werden. Pupillen mittelweit bis eng, isocor, Reaktion auf Licht prompt.  Bei der palpatorischen und inspektorischen Untersuchung von Thorax, Abdomen, der Wirbelsäule und der Extremitäten keine Schmerzreaktionen der Patientin. Es sind keine Prellmarken sichtbar. Adäquate Reaktion der Patientin auf taktile Reize in der Körperperipherie.

 

Der Transport wird vorbereitet. Dann kommt es zu einem Klonus der Unterkiefermuskulatur, der allerdings „ohne Zungenbiss“ nach 1 Minute ohne Medikation sistiert. Daraufhin wird Midazolam zur Applikation über MAD vorbereitet.  Ca 5 Minuten später kommt es zu einem stärkeren klonischen Krampfereignis, wobei allerdings nur der Rumpf und die obere Extremität beteiligt sind. Nun erfolgt die nasale Gabe von Midazolam 2 x 5 mg per MAD, woraufhin das Krampfgeschehen sistiert. Der Notarzt wird nachgefordert.

 

Weitere Erstbehandlung durch die RTW-Mannschaft:
Die Anlage eines intravenösen Zugangs gelingt bei miserablen Venenverhältnissen der Patientin nicht.

 

Der zugestiegene Notarzt bestätigt die Notwendigkeit einer zügigen weiteren Befundklärung und eines Drogen-Screenings.

Ein intravenöser Zugang mit einer kleinlumigen Verweilkanüle kann nun doch erfolgreich am Fußrücken angelegt werden. Bei der Untersuchung der Kleidung der Patientin finden sich keine Dokumente.

Frische Injektionsstellen sind nicht sichtbar. Die BZ-Stix-Kontrolle betätigt einen Wert > 500 mg /dl. Pupillen weiterhin mittelweit bis eng ohne Seitendifferenz.

Kein Meningismus. Keine Hyperreflexie bei der Prüfung der Muskeleigenreflexe. Auch keine pathologischen Reflexe. Kein auffälliger Foetor ex ore. Tympanale Temperatur: 38,5 °c.

Reaktion auf laute Ansprache ist immer noch angedeutet gegeben.

 

 

Verdachtsdiagnose?

 

Zielklinik?

 

Dr. Gerrit Müntefering

Arzt für Chirurgie/Unfallchirurgie/Notfallmedizin

Lessingstraße 26

47445 Moers

3 thoughts on “Fall des Monats Dezember 2022

  1. Guten Tag an alle,
    vielen Dank für die interessante Kasuistik.
    Erstbeurteilung:
    Trotz scheinbar stabiler Vitalparameter (ABC) angesichts der Neurologie (D) und der fremdanamnestisch erhobenen schnellen Zustandsverschlechterung: Kritische Patientin
    Differentialdiagnosen:
    – Intoxikation? Vigilanzminderung und Krampfanfälle sind Symptome verschiedener Intoxikationen, lassen sich aber in Verbindung mit den erhobenen Vitalparametern keinem typischen Toxidrom eindeutig zuordnen.
    – Hyperosmolares Coma Diabetikum? Gemessener BZ und Neurologie stützen diese Diffentialdiagnose
    – ZNS? Entzündung oder Raumforderung
    – Sepsis? Trotz negativem qSOFA-Score bei Vigilanzminderung, Fieber unter Berücksichtigung der Anamense (Entzündungsherde?) eine wahrscheinliche Option
    Insgesamt: Bei allen Diffentialdiagnosen wird die Patientin von einem Volumenbolus profitieren. Vielleicht gelingt die Punktion proximal der geglückten Punktionsstelle für einen weiteren Zugang.
    Zielklinik: Aufnahmebereite Intensiv, verfügbare CT-Diagnostik, Innere, Neurologie
    Transport: zügig

    Viele Grüße

    Andreas

  2. Hallo,
    den umfangreichen differentialdiagnostischen Überlegungen ist nur wenig hinzuzufügen. Ich würde allerdings gerne zu bedenken geben, dass die Information „Pat. raucht Heroin“ das Vorhandensein einer Polytoxikomanie wahrscheinlich macht. Wegen fehlender Tachykardie bzw. eines Hypertonus scheint eine Kokainintoxikation hier nicht zusätzlich vorzuliegen. Da Heroin durch Konsumenten in bestimmten Situationen durch Benzodiazepine ersetzt werden, muss man mit einer, zum Teil, erheblichen Gewöhnung bei der Pat. rechnen, was bei der Dosierung von Midazolam bedacht werden sollte. Evtl. muss zur Krampfdurchbrechung auf andere Substanzen ausgewichen werden. Insgesamt erscheint eine symptomatische präklinische Therapie mit dem oben vorgeschlagenen weiteren Procedere geboten.

    Schönes Wochenende

    Stefan

  3. Auflösung des Dezemberfalls 2022 :

    Die Überlegungen von Andreas und Stefan zur Differentialdiagnostik gehen in die richtige Richtung insbesondere hinsichtlich des Vorhandensein einer Polytoxikomanie, eines ursächlichen hyperosmolaren Coma Diabetikum und des Vorliegens einer ZNS-Entzündung oder Raumforderung

    Es wird eine Klinik mit größerer neurologischer Abteilung angesteuert. Keine Befundänderung während des Transports. SpO2: 96 %. 12 Atemzüge / Minute, RR : 120 / 70 mm HG , Puls 95 /min rhythmisch. Es kann noch ein 2. intravenöser Zugang am anderen Fußrücken angelegt werden.

    Weiterer Verlauf in der neurologischen Klinikabteilung:
    Das Drogen-Screening ergibt keine Heroin-Intoxikation, lässtaber mäßig erhöhte Amphetamin- und THC-Spiegel erkennen, die eigentlich nicht zum präklinischen Befund passen.
    Es erfolgt die kontrollierte Senkung des Blutzuckers sowie der bedarfsgerechte Flüssigkeitsausgleich unter engmaschigem Monitoring der Elektrolytwerte.
    Bei anhaltender Somnolenz wird zeitnah eine Liquor-Diagnostik eingeleitet , die eine mäßig erhöhte Zellzahl ergibt. Der PCR-Test ergibt den Hinweis auf eine Herpes simplex-Enzephalitis. Es erfolgt die sofortige antivirale i.v. Therapie mit Aciclovir.
    Dennoch kommt es zur Zunahme der Somnolenz mit wiederholten tonisch-klonischen Krampfanfällen und zur Entwicklung einer linksseitig armbetonten Hemiparese.
    Im MRT zeigen sich rechtsseitig temporal entzündliche Läsionen mit Ausbreitung in Richtung Frontal- und Parietallappen.

    Aufgrund eines zunehmenden Hirnödems wird am 3.stationären Tag die Verlegung der Patientin in die neurochirurgische Universitätsklinik eingeleitet.

    Weiterer Verlauf in der neurolochirurgischen Universitätsklinik:
    In der Universitätsklinik wird die 45-jährige Frau auf die Intensivstation aufgenommen, wo sie bei progredientem, mittlerweile frontalbetonten Hirnödem am Folgetag nicht-invasiv beatmet werden muss.
    Unter fortgesetzter antiviraler Therapie klart die Patientin am 7. Tag nach Ereignisbeginn auf. Die respiratorische Insuffizienz besteht allerdings nach wie vor und auch eine inkomplette linksseitige Armparese. Die Patientin atmet wach am Tubus.
    Am 9. Tag nach Ereignisbeginn erfolgt der Versuch der Extubation mit anfänglichen Schwierigkeiten und notwendiger High-Flow-Ventilation.
    Die respiratorische Insuffizienz ist erfreulicherweise rasch rückläufig . Die 45-jährige Frau ist orientiert und therapiekompliant.
    Aufgrund der weiterhin bestehenden inkompletten Armparese wird die Patientin am Tag 13 in eine neurologische Rehabilitationsmaßnahme verlegt.

    (Auszugsweise zitierte) Informationen zur Herpes simplex-Encephalitis aus dem DocCheckFlexikon:
    Die Herpes-simplex-Enzephalitis wird in 95 % d.F. durch das Herpes-simplex-Virus 1 (HSV-1), selten und v.a. bei Immunsupprimierten sowie im Rahmen eines Herpes neonatorum durch HSV-2 hervorgerufen.
    Die meisten Erwachsenen mit HSV-Enzephalitis zeigen vor dem Auftreten neurologischer Symptome klinische oder serologische Anzeichen einer mukokutanen HSV-Infektion. Pathogenetisch liegt eine Reaktivierung von latenten Viren im ZNS, in Ganglien des Nervus trigeminus oder in den Ganglien autonomer Nerven vor.
    Die Erkrankung beginnt mit unspezifischen grippeähnlichen Symptomen, die für 1-4 Tage persistieren. Dieser Prodromalphase folgt nach kurzzeitiger Besserung ein plötzlicher Fieberanstieg mit Kopfschmerzen und Erbrechen. Die betroffenen Patienten machen einen schwerkranken Eindruck und zeigen schließlich eine psychomotorische Verlangsamung, sowie die Symptome eines hirnorganischen Psychosyndroms. Häufig entwickelt sich eine Aphasie, eine leichte Hemiparese, ein Meningismus und fokale oder generalisierte epileptische Anfälle. Unbehandelt steigt der Hirndruck und es entwickelt sich eine Bewusstseinsminderung bis hin zum Koma.
    Methode der Wahl in der Frühdiagnostik bei Verdacht auf eine Herpes-simplex-Enzephalitis ist der Nachweis von HSV-DNA im Liquor mittels PCR.
    Das radiologische Bild der hämorrhagisch-nekrotisierenden Enzephalitis der temporo- und frontobasalen Hirnanteile ist frühstens ab dem 4. Erkrankungstag in der Computertomographie (CT) nachweisbar.
    Bei Verdacht auf eine Herpes-simplex-Enzephalitis sollte unverzüglich Aciclovir verabreicht werden.
    Ohne Behandlung versterben 70 % der Patienten. Unter frühzeitiger adäquater Therapie beträgt die Mortalität 20 %. Bei einem von drei Patienten zeigen sich nach der Behandlung neurologische Defizite (z.B. Paresen).

    Dr. Gerrit Müntefering
    Arzt für Chirurgie/Unfallchirurgie/Notfallmedizin
    Lessingstraße 26
    47445 Moers

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