Fall des Monats März 2019

Alarmierung:

Notarztnachforderung durch die RTW-Besatzung am Freitag um 23:30 Uhr:Stichworte: 15-jähriges Mädchen, häusliche GewaltDas NEF trifft 7 Minuten nach Alarmierung am Einsatzort ein. Parterrewohnung in einem Mehrfamilienhaus.

Vorgeschichte: Der Notarzt wird von der RTW-Besatzung bereits an der Tür der Wohnung abgefangen und über die aktuell relevante Vorgeschichte informiert:

Ca 30 Minuten zuvor hat die Mutter eines 15-jährigen Mädchens die Rettungsleitstelle angerufen und Hinweise auf häusliche Gewalt und Körperprellungen bei ihrer Tochter gegeben. Konkrete Angaben zum Verletzungsbild oder -Hergang sind im Telefonat der Mutter mit der Leitstelle nicht gemacht worden. Daraufhin ist ein RTW in Marsch gesetzt worden.

Situation vor Ort :

Bei Eintreffen an der Einsatzstelle findet die RTW-Besatzung sowohl die Mutter als auch die Tochter verstört vor. Die Mutter identifiziert sich als Anruferin, macht aber keine genaueren  Angaben zum Verletzungshergang . Die Tochter sitz eher apathisch auf der Couch und kommuniziert nur einsilbig. Sie  lässt sich aber durch die Notfallsanitäter untersuchen. Bei der Untersuchung stellen die Notfallsanitäter  frische Hämatome im Bereich der Unterarme fest, die auf Gewalteinwirkung schließen lassen. Auf Nachfrage nach dem Verletzungshergang berichtet die Tochter sodann, dass sie vom Freund ihrer Mutter vergewaltigt worden sei.

Die RTW-Besatzung alarmiert daraufhin sofort den Notarzt nach.

Erstbefund:

Der Notarzt führt weitere Untersuchungen durch. Bei nun auch erkennbaren Hämatomen im Bereich der Oberschenkelinnenseiten passen die Angaben der Tochter zum Verletzungsbild.

Der Notarzt schlägt vor, die Polizei zu alarmieren.

Die 15-jährige Patientin teilt daraufhin jedoch nachdrücklich mit, dass sie das nicht möchte und auch keine rechtlichen Schritte einleiten wolle.

Auch von der Notwendigkeit eines Transports zur weiteren Untersuchung in eine gynäkologische Klinik kann sie nicht überzeugt werden.

Weiteres Vorgehen ?

Dr. Gerrit Müntefering
Arzt für Chirurgie / Unfallchirurgie / Notfallmedizin
Lessingstr. 26 47445 Moers

4 thoughts on “Fall des Monats März 2019

  1. Wenn die Patientin wiederholt nicht von einem Transport ins Krankenhaus überzeugt werden kann, ist nach rechtfertigendem Notstand eine Güterabwägung vor Ort vorzunehmen und ggf. das Jugendamt und/oder die Polizei zur Einsatzstelle zu bestellen.

  2. Schwierige Situation, zumal das mutmaßliche Tatopfer minderjährig ist (aus der Beschreibung wird nicht deutlich, ob die Mutter sich noch zu dem Geschehen äußert). Die Patientin gegen ihren Willen in eine Klinik zu bringen, würde ja evtl. noch einmal Zwang erfordern. Wollen wir das?
    Rechtlich sieht es so aus, dass es hier nicht um das Verhindern einer Straftat, sondern um Strafverfolgung geht. Da wäre es mit einem Bruch der Schweigepflicht gegen den Willen von Tochter und Mutter heikel. Eine Meldung ans Jugendamt lässt sich evtl. noch mit der Wiederholungsgefahr begründen.
    Vielleicht hilft in der akuten Situation ein Mittelweg: Überzeugen, dass mit dem Erheben von Untersuchungsbefunden in der Gynäkologie oder Rechtsmedizin erstmal die Tat dokumentiert ist und alles Weitere später entschieden werden kann.
    Vielleicht ist der Kopf von Tochter und Mutter anschließend frei genug, um Strafanzeige zu stellen. Wenn alle guten Worte nichts helfen, würde ich aber zumindest das Jugendamt hinzuziehen, diese Situation kann man nicht achselzuckend abtun.

  3. Die Rechtsmedizin kann relevante Befunde beweiskräftig sichern, ohne dass die Polizei hinzugezogen werden muss. Die Betroffene kann dann im weiteren Verlauf immer noch überlegen, ob sie eine Strafverfolgung möchte. Zunächst würden die medizinischen Befunde nur ohne weitere Verfolgung gesichert. Zumindest in meinem Bundesland
    (Schleswig-Holstein) ist dieses Vorgehen möglich.

    Insgesamt habe ich gute Erfahrungen damit gemacht, in scheinbar „verfahrenen“ Situationen einem Patienten vorzuschlagen, dass eine vom Patienten ausgewählte Vertrauensperson hinzugezogen wird, die in der Lage ist, sehr kurzfristig an den Ort des Geschehens zu kommen. Damit gelingt es oft, einen Zugang zum Patienten zu bekommen. Ob sich dies im hier geschilderten Fall in der Akutsituation verwirklichen lässt, lässt sich nicht sicher sagen. Aber gerade Jugendliche bieten oft überraschende Lösungen über externe Vertrauenspersonen an, so dass man diese Möglichkeit auf jeden Fall im Kopf behalten würde.

    Eine zwangsweise Untersuchung und Behandlung würde ich in einem solchen Fall ablehnen. Eine Benachrichtigung des Jugendamts ist in Erwägung zu ziehen, sollte jedoch auch mit der Jugendlichen besprochen werden.

    Unter Umständen kann ein Frauenhaus in der unmittelbaren Situation ebenfalls mit Rat und Tat zur Seite stehen.

  4. Weiterer Verlauf des Märzfalls 2019:

    Von den 3 Diskussionsteilnehmern wurde die brisanten Probleme des Falls bereits antizipiert.

    Die Patientin wird vom Notarzt ausdrücklich darauf hingewiesen, dass das Hinzuziehen der Polizei nicht erfolgen werde, wenn sie es nicht möchte. Weiterhin wird der Jugendlichen mitgeteilt, dass eine Untersuchung und Behandlung auf keinen Fall ohne ihren Willen erfolgen werde.
    Die Patientin aber auch darüber informiert , dass das Erheben von Untersuchungsbefunden durch eine Gynäkologin / einen Gynäkologen allein zur Dokumentation der Tat sinnvoll sein könne ohne dass in diesem Zusammenhang die Polizei hinzugezogen werden müsse. Über rechtliche Schritte können sie selbst dann immer noch zu einem späteren Zeitpunkt entscheiden.

    Im Rahmen eines anschließenden Gesprächs unter 4 Augen mit dem Notarzt in ruhiger Athmosphäre ( mit Einverständnis der Mutter ) willigt die Jugendliche letztendlich doch in die Durchführung einer gynäkologischen Befunderhebung ein.

    Dr. Gerrit Müntefering
    Arzt für Chirurgie / Unfallchirurgie / Notfallmedizin
    Lessingstr. 26 47445 Moers

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