Arbeitsgemeinschaft Notärzte in Nordrhein-Westfalen

2 Einsätze mit Todesfeststellungen durch den Notarzt in jüngerer Vergangenheit

 

1. Fall:

 

Alarmierungsmeldung Montag 22:00 Uhr:

Mitteilung des Anrufers im Polizeipräsidium, dass sein Lebensgefährte gerade Selbstmord begangen habe.

Es erfolgt die zeitgleiche Alarmierung des Notarztes durch den Disponenten in der Polizeizentrale

 

Situation vor Ort:

Der Anrufer empfängt das NEF-Team an der Tür eines zweigeschossigen Hauses und führt es zum Schlafzimmer in der ersten Etage. Dort wird ein 32-jähriger Mann in Rückenlage auf dem Bett liegend angetroffen. Über den Kopf gestülpt ist eine sehr dünne weiche transparente Plastiktüte. Die sehr dünne Plastiktüte liegt dem Kopf locker an.

 

Foto mit vergleichbarem Aspekt (aus dem Netz, zur freien Verwendung)

 

Es sind Totenflecken erkennbar. Die 2-malige EKG-Ableitung zeigen einen Null-Linie.

Der Lebensgefährte des Toten berichtet, dass bei seinem Partner vor einem Jahr eine schwerwiegende Lungenfunktionsstörung festgestellt worden sei mit rascher Progredienz, wobei der betreuende Pulmonologe seinem Partner eine deutlich begrenzte Lebenserwartung mitgeteilt hätte, wenn niemand zur Lungentransplantation gefunden werden könnte. Aufgrund einer leichten Befundverschlechterung wären in den vergangenen Monaten wiederholt depressive Einbrüche eingetreten, die aber durch Psychopharmaka bisher noch zufriedenstellend abgefangen werden konnten.

Heute Abend wäre der Anrufer gegen 19:00 Uhr aufgrund seines Geburtstages mit einer Verwandten in einem Restaurant verabredet gewesen. Als er gegen 22 Uhr vom Restaurant-Besuch zurückkehrte, habe er seinen Partner in diesem Zustand vorgefunden.

 

Bei der Untersuchung des Toten werden keine Zeichen einer äußeren Gewalteinwirkung erkannt. Bei der Inspektion des Schlafzimmers sowie des angrenzenden Badezimmers zeigen sich keine Auffälligkeiten. Keine entsorgten leeren Tablettenblister im Nachttisch oder im Mülleimer. Bei der Inspektion der über dem Kopf befindlichen dünnen, nicht sehr voluminösen Plastiktüte werden an der Rückseite mehrere größere Einrisse sichtbar.

 

Die eingetroffenen Kriminalbeamten können den erfolgreichen Suizidversuch des 32-jährigen Manns aufgrund der Auffindesituation nachvollziehen ohne weiteren Klärungsbedarf.

 

D’accord?  oder…gäbe es Grund zur Diskussion / zur weiteren Klärung?

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2. Fall:

 

Alarmierungsmeldung Montag 18:00 Uhr:

Nicht ansprechbare Person in Wohnung, Nachbar vor Ort, vermutlich Exitus letalis

 

Situation vor Ort:

Der Anrufer empfängt die NEF- Besatzung an der Haustür eines Einfamilienhauses und führt sie in die zweite Etage eines mehrstöckigen Hauses. Dort wird eine männliche 42-jährige Person in gerader Körperhaltung auf dem Bauch liegend mit seitlich gestreckt am Körper anliegenden Armen vorgefunden. Die sofort eingeleitete Erstuntersuchung bestätigt den Exitus letalis bei erkennbaren Leichenflecken. Der Nachbar berichtet, dass er 2 Stunden zuvor noch mit dem nun tot vorgefunden Mann gesprochen habe. Zu diesem Zeitpunkt habe es keine Auffälligkeiten gegeben. Auch keine Klagen des Mannes über akute Beschwerden.

Der Nachbar zeigt starke Betroffenheit, insbesondere da die Ehefrau des nun tot aufgefunden Mannes vor 1 Jahr im gleichen Zimmer Suizid begangen hätte.

Fotos mit vergleichbarem Aspekt (nachgestellt bzw. aus dem Netz mit vergleichbarem Aspekt)

 

Befund:

Nach vorsichtigem Umdrehen des Toten in die Rückenlage zeigt sich eine Monokelhämatombildung im Gesichtsbereich mit Deformierung und Abflachung der Nasenkontur sowie feststellbarer Krepitation des knöchernen Nasenskeletts hinweisend auf eine Nasenbeinfraktur. Koagulierte Blutung im Bereich beider Nasenlöcher. Pupillen seitengleich weit und entrundet.  Keine weitere Instabilität des knöchernen Gesichtsschädels. Oberlippenhämatom Keine Hinweise auf ein relevantes Kiefer- und Zahntrauma.

 

HWS ohne erkennbare Instabilität. Knöcherner Thorax stabil ohne Hinweis auf eine Rippenfraktur. Abdomen nicht aufgetrieben.

Becken und Extremitäten ohne Hinweis auf knöcherne Verletzung.

Die 2-malige EKG-Ableitung im 30-minütigen Abstand ergibt eine Null-Linie.

Der Blutzucker-Stix ergibt einen Wert von 23 mg/dl.

Die Untersuchung des Integuments am Rumpf und Extremitätenbereich zeigt – soweit bei bereits eingetretener mäßiger Hautverquellung und bei eingetretenen Leichenflecken beurteilbar – keine relevanten Traumaspuren, allerdings diskrete Hautläsionen und kleinere Hämatome im Bauchdeckenbereich. Bei der Inspektion des Zimmers wird auf dem Schreibtisch eine CD mit der Adresse eines örtlichen Bestatters vorgefunden. Im Badezimmer auffällig ist eine dauerhaft laufende Toilettenspülung.

Der Tote wird nach erfolgter sorgfältiger Leichenschau wieder die primäre Ausgangslage zurückgeführt.

Der Anrufer wird zu den bekannten Besonderheiten im Leben des Toten befragt. Der Anrufer berichtet, dass sein Nachbar im letzten Jahr vom Freitod seiner Ehefrau sehr betroffen gewesen sei. Diese sei auch sehr krank gewesen aufgrund der Folgezustände bei bekanntem insulinpflichtigen Diabetes mellitus.

 

Der Hausarzt des Versicherten kann nicht erreicht werden. Bei unklarer Todesursache erfolgt die Information der Kriminalpolizei.

Vom Kriminalbeamten werden Anhaltspunkte für eine äußere Gewalteinwirkung nicht gesehen und darauf gedrängt, den Hausarzt zu erreichen.

Der Hausarzt ist laut Anrufbeantworter der Praxis urlaubsbedingt nicht erreichbar.

Nach Ansicht des Kriminalbeamten wäre – trotz nicht natürlicher Todesursache – ein weiterer Klärungsbedarf nicht erkennbar, da keine Anzeichen einer Fremdeinwirkung als Todesursache vorliegen.

 

D’accord?  oder…gäbe es Grund zur Diskussion / zur weiteren Klärung?

 

Dr. Gerrit Müntefering

Facharzt für Chirurgie/Unfallchirurgie/Notfallmedizin

Lessingstraße 26

47445 Moers

 

2 thoughts on “Fall des Monats November 2024

  1. Fall 1:

    Mich würde die dünne und nur locker dem Kopf anliegende, an der Rückseite rissige Plastiktüte stutzig machen.
    Was ist das für ein „Schmuck“bändchen um den Hals?

    Fall 2:

    Alter des Verstorbenen.
    Auffindesituation wie drappiert, anliegende Arme und Beine bei Sturz auf das Gesicht eher unwahrscheinlich, keine Schutzreflexe beim vermeintlichen“ Sturzereignis“?
    Bds. Monokelhaematom (= Brillenhaematom) und Nasenbeinfraktur, spricht eher auch für zusätzliche Schädelbasisfraktur und damit massive Gewalteinwirkung, Blutung aus der Nase, Ohren?, Liquor?
    Woher kommen die Hautlaesionen und kleineren Haematome an der Bauchdecke, subkutane Injektionen (Insulin der Ehefrau)?
    BZ von 23mg% bereits 2 Stunden post mortem realistisch?
    Eintretende Hautverquellung bereits 2 Stunden post mortem?
    CD mit Kontaktdaten zu einem Bestatter, jedoch kein Abschiedsbrief?
    „Dauerhaft laufende Toilettenspülung“ > Entsorgung von Medikamenten (Antidiabetika der verstorbenen Ehefrau), anderen Beweismitteln?

    Alles in allem meiner jahrzehntelangen notärztlichen Erfahrung entsprechend, selbst bei gründlicher und fundierter Leichenschau (wird ja häufig nicht von allen Kollegen so gemacht oder als Notarzt an einen anderen Kollegen weitergereicht) nicht selten wenig „Motivation“ der Ermittlungsbehörden, ferner noch für mich erhebliche Unterschiede der Arbeit der Ermittlungsbehörden in den einzelnen Bundesländern erkennbar…

  2. (Nicht-)Auflösung der beiden Novemberfälle 2024

    MiScha hat in beiden Fällen den Nagel auf den Kopf getroffen! Chapeau!
    Und er hat auch den weiteren Verlauf erahnt!

    Fall Nr 1:
    Kurzer Wikipedia-Exkurs zum Thema Exit bag:
    Bei einem Exit-Bag handelt es sich in der Regel um einen luftdichten Plastikbeutel, den der Sterbewillige sich selbst über den Kopf zieht oder gestülpt bekommt.[1]Dadurch wird die Person von der Umgebungsluft abgeschnitten und stattdessen einer ausreichend großen Füllmenge Inertgas, wie Stickstoff oder einem Edelgas, ausgesetzt.[2] Sauerstoffmangel führt innerhalb von 15 bis 20 Sekunden zur Bewusstlosigkeit. Hirnschäden entstehen nach ein bis zwei Minuten. Der Tod durch Atemstillstand tritt nach zwei bis 40 Minuten ein.[2][3]
    Steigt die Kohlenstoffdioxidkonzentration im Beutel auf mehr als 0,5 % bis 1 % an, kommt es zu einem starken, nicht unterdrückbaren Atemreflex und Erstickungsgefühl mit schmerzhaftem Todeskampf.[4] Das Erstickungsgefühl entsteht primär durch einen Anstieg der Kohlenstoffdioxidkonzentration im Blut, und nicht durch einen Mangel von Sauerstoff.[5] Kann der Sterbewillige Kohlenstoffdioxid erfolgreich in die Inertgasatmosphäre abatmen, ist das Erstickungsgefühl stark reduziert.[6] Bei ausreichender Dimensionierung des Beutels und Gasflusses sollte der Nutzer keine erhöhte Konzentration von Kohlenstoffdioxid wahrnehmen.
    1. Jessica Düber: Selbstbestimmt Sterben – Handreichung für einen rationalen Suizid. 2017, ISBN 978-1-5204-8820-2, Kapitel 4.: Verwendung von inerten Gasen in Kombination mit einem Exit-Bag, S. 57 bis 79.
    2. A. Smędra, S. Szustowski, A. P. Jurczyk, J. Klemm, S. Szram, J. Berent: Suicidal asphyxiation by using helium – two case reports. In: Archiwum medycyny sadowej i kryminologii. Band 65, Nummer 1, 2015, S. 37–46, doi:10.5114/amsik.2015.51605, PMID 26007160.
    3. Nowak, K., Szpot, P. & Zawadzki, M. Suicidal deaths due to helium inhalation. Forensic Toxicol 37, 273–287 (2019). https://doi.org/10.1007/s11419-019-00473-2
    4. Hazards of inert gases and oxygen depletion. European Industrial Gases Association AISBL, 2009, archiviert vom Original (nicht mehr online verfügbar) am 31. Mai 2019; abgerufen am 21. Juli 2018.
    5. S. Lahiri, A. Roy, S. M. Baby, T. Hoshi, G. L. Semenza, N. R. Prabhakar: Oxygen sensing in the body. In: Progress in biophysics and molecular biology. Band 91, Nummer 3, Juli 2006, S. 249–286, doi:10.1016/j.pbiomolbio.2005.07.001, PMID 16137743 (Review).
    6. R. D. Ogden, W. K. Hamilton, C. Whitcher: Assisted suicide by oxygen deprivation with helium at a Swiss right-to-die organisation. In: Journal of medical ethics. Band 36, Nummer 3, März 2010, S. 174–179, doi:10.1136/jme.2009.032490, PMID 20211999.

    Im aktuellen Fall war weder ein luftdichter Plastikbeutel vorhanden noch war eine ausreichende Dimensionierung des Beutels nachvollziehbar. Die Plastiktüte über dem Kopf des Mannes hatte mehrere Einrisse.
    Die Todesursache wurde den Beamten als „nicht natürlich“ und sicherlich „abklärungsbedürftig “ mitgeteilt.

    Weiterer Verlauf:
    Eine Obduktion des Toten ist – laut späterer telefonischer Abfrage des Notarztes bei Kriminaldezernat – nicht veranlasst worden. Es ist eine Urnenbestattung erfolgt.

    Fall Nr 2:

    Bei der synoptischen Beurteilung der Auffindesituation (mit auffällig gestreckter Körperlage und anliegenden Armen), des niedrigen Blutzuckerspiegels, den diskreten Hautläsionen und Hämatomen im Bauchbereich, der auf dem Schreibtisch liegenden CD mit der Adresse eines örtlichen Bestatters und der Trauersituation des Toten über den Freitod seiner Ehefrau im Vorjahr (mit bekanntem „insulinpflichtigem“ Diabetes mellitus) wurde auch hier die Todesursache den Beamten als „nicht natürlich“ und sicherlich „abklärungsbedürftig “ mitgeteilt.

    Weiterer Verlauf:
    Auch in diesem Fall ist eine Obduktion des Toten – gemäß telefonischer Abfrage des Notarztes bei Kriminaldezernat – nicht erfolgt. Auch hier ist eine Urnenbestattung durchgeführt worden.

    Ein ungutes Gefühl verbleibt in beiden Fällen!
    Dr. Gerrit Müntefering
    Arzt für Chirurgie / Unfallchirurgie / Notfallmedizin
    Lessingstr. 26
    47445 Moers

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