Arbeitsgemeinschaft Notärzte in Nordrhein-Westfalen

Alarmierungsmeldung Samstag gegen 06: 50 Uhr:

NA-Nachforderung durch RTW vor Ort: 80-jährige Frau in Altenpflegeheim, starke Schmerzen im Leistenbereich bds, Nachmeldung (kurze Zeit nach Ausrücken des NEF) : Nun Krampfereignis mit Eintrübung

 

Situation vor Ort:

Der RTW war ca 10 Minuten nach Alarmierung am Seniorenheim eingetroffen. Der Wohnbereich befindet sich im ersten Stock des mehrgeschossigen Hauses.

Eine Mitarbeiterin des Wohnbereichs empfängt das Rettungsteam. Sie teilt mit, dass die Bewohnerin erst vor kurzem in diesem Heim eingezogen ist.

Die Pflegefachkraft berichtet zur Vorgeschichte, dass bei der Bewohnerin ein Morbus Parkinson bekannt sei, eine koronare Herzerkrankung und eine zunehmende periphere arterielle Verschlusskrankheit der unteren Extremität bds.

Sie kann einen Medikationsplan der Bewohnerin vorlegen (datiert allerdings auf „Mitte 2022“):  L-Dopa + Benserazid, Torasemid 10 mg, Zopiklon zur Nacht Ass 10 mg, Clopidogrel ist seit März 2023 pausiert.

Bei der Bewohnerin ist bisher eine Pflegebedürftigkeit gemäß Pflegegrad 2 festgestellt worden. Es sei eine beginnende Demenz bekannt. Die 80-jährige Frau sei auch gestern noch recht gut mit ihrem Rollator mobil gewesen.

In der letzten Nacht sei die Patientin allerdings anhaltend unruhig gewesen. Sie sei dann gegen 05:30 vom Altenpfleger der Nachtschicht vor ihrem Bett auf dem Boden liegend vorgefunden worden. Die Bewohnerin sei wach gewesen und habe auch auf Ansprache sofort reagiert. Sie habe keine Schmerzen angegeben und sei – nach orientierender Untersuchung der Extremitäten auf Fehlstellungen – von 2 Pflegern wieder ins Bett gelegt worden. Ca 40 Minuten später habe sich die Patientin gemeldet und starke Schmerzen im Leistenbereich beidseits angegeben. Aufgrund dieser ausgeprägten Schmerzsymptomatik bei nur geringem Druck und bei leichter Bewegung habe man dann den Rettungsdienst alarmiert.

Die RTW-Besatzung, die 10 Minuten später am Seniorenheim eintrifft, finden einer wache Bewohnerin im Bett liegend vor.

 

Erstuntersuchung:

Ein A-, B- und C-Problem ist nicht feststellbar. Der Radialispuls ist allerdings unregelmäßig tastbar mit Frequenz zwischen 80 -110/min. RR 130/70 mmHg, Sauerstoffsättigung bei 93 %. Bei der Prüfung des D-Status wird eine situative Desorientierung der Bewohnerin festgestellt, jedoch keine örtliche Desorientierung der Heimbewohnerin oder Fehlangaben zur eigenen Person.

Bei der Untersuchung bezüglich des E-Problems ist bei der Erstuntersuchung ein eher leichter endgradiger Bewegungsschmerz beider Hüftgelenke feststellbar mit Ausstrahlung in die Leistenregion. Keine Beinfehlstellung, keine einseitige Beinverkürzung und keine Außendrehstellung der Beine.  Beim vorsichtigen Durchbewegen beider Beine keine Krepitation. Leistenpulse bds. schwach tastbar. Bei der Untersuchung der unteren Extremität ist allerdings eine deutlichere Unterschenkelschwellung links gegenüber rechts erkennbar. Diskrete Ödembildung auch im Bereich des rechten Unterschenkelregion. Oberschenkeletage bds. nicht auffällig umfangsvermehrt.

 

Erstmaßnahmen:

Der Versuch der Anlage eines Venenzugangs im Bereich der oberen Extremität scheitert an den sehr dürftigen Venenverhältnissen auch im 2.Versuch.

Ein Transport in die Klinik wird vorbereitet und freie Krankenhauskapazitäten abgefragt.

Die Bewohnerin wird mit vorsichtiger Rumpfdrehung (unter Mithilfe eines Pflegers) auf das Tragetuch des RTW gelegt. Bei diesem Manöver gibt die 80-jährige Frau plötzlich ein Übelkeitsgefühl an. Unmittelbar anschließend kommt es zu einem generalisierten Krampfanfall mit einer Dauer von 30-40 Sekunden und anschließender sehr kurzer postiktaler Dämmerphase. Bei nicht getragenen Zahnvollprothesen ist ein Zungenbiss nicht sicher beurteilbar. Bei bekannter windelpflichtiger Harninkontinenz ist eine Enuresis nicht feststellbar. Pupillen seitengleich, mittelweit mit prompter Lichtreaktion.

Der Notarzt wird vom Rettungsteam nachgefordert. Nach dem Krampfanfall Vitalparameter unverändert zum Erstbefund (RR135/80 mmHg, Puls: 90 -105/min, SaO2 : 93 %). Blutzuckerstix :65 mg/dl. Tympanale Temperatur 38,4°

Ein EKG wird abgeleitet: Das EKG zeigt eine absolute Arrhythmie bei Vorhofflimmern mit Frequenz bei 100/ min bei ansonsten unauffälligem Stromkurvenverlauf.

 

Der Notarzt trifft 8 Minuten nach Alarmierung ein.

Bei der nochmaligen Untersuchung auf Traumafolgen kein auffälliger Befund, auch im HWS- und Kopfbereich keine Schwellung oder Prellmarke.

Palpatorische und auskultatorische Untersuchung von Thorax und Abdomen weiterhin unauffällig. Fußpulse und Poplitealpulse bei vorbeschriebener pAVK bds. nicht tastbar. Leistenpulse bds. weiterhin schwach palpabel. RR 130/80 mmHg. Kein seitendifferenter Blutdruck im Armbereich feststellbar.

Ein peripherer Venenzugang kann nun doch im Unterarmbereich angelegt werden. Blutzuckerstix :70 mg/dl

 

Bei der Sichtung der im Heim vorhandenen medizinischen Unterlagen ist eine absolute Arrhythmie bei der Bewohnerin bisher nicht vorbeschrieben.

Bei der Abfrage nach dem Vorbestehen des nun erkennbaren massiven Unterschenkelödems links ist dem Pflegepersonal bisher bei der Grundpflege nichts aufgefallen.

Der Telefonkontakt zur Hausärztlichen Praxis verläuft erwartungsgemäß am Samsatag früh erfolglos.

 

Verdachtsdiagnose?

 

Zielklinik?

 

 

Dr. Gerrit Müntefering
Chirurgie / Unfallchirurgie / Notfallmedizin
Lessingstr. 26 

47445 Moers

3 thoughts on “Fall des Monats September 2023

  1. Aufgrund der beschriebenen Symptomatik und der angegebenen klinischen Befunde und Vordiagnosen würde ich primär Richtung arterieller Verschluß tendieren, z.B. Leriche Syndrom. Die unteren Pulse sind bds. nicht tastbar, Clopidogrel wurde scheinbar aus der dualen Thrombozytenaggregationshemmung abgesetzt (Grund für die duale Therapie ist ja meist ein arterielles Verschlußproblem mit ggf. Stenteinlage), neu aufgetretenes VHF wird beschrieben… ggf. kam es zu einem arteriellen thrombembolischen Ereignis, was auch die neurologische Problematik (Krampfanfall) miterklären könnte.
    Eine venöse Thrombose halte ich bei ansonsten mobiler Patientin für eher unwahrscheinlich.

    Zielklinik wäre eine Klinik mit Gefäßchirurgie/interventioneller Radiologie sowie vorhandener Intensivkapazität. Neurologische Abteilung wäre zudem wünschenswert bei Erstereignis Krampfanfall.
    Maßnahmen wären wenigstens 1 venöser Zugang (liegt bereits), Analgesie mit z.b. Piritramid, Anti-Emese mit z.b. Ondansetron, zügiger Transport möglichst liegend (kein sitzender Transport). Auf Antikoagulation mit z.B. Heparin würde ich vorerst verzichten (DD Dissektion/Bauchaortenaneurysma?).

  2. Schwieriger Fall wegen widersprüchlicher Symptomatik. Venöse und arterielle Ursachen für das Schmerzereignis und den Krampfanfall stehen im Raum. Wie ist Hautkolorit und Temperatur der Beine? Sensibilitätsstärungen (soweit eruierbar), Palpationsbefund Unterschenkel? Die 6 Pratt-Ps finde ich aktuell nur wenig repräsentiert, die periphere Pulslosigkeit ist evt sogar vorbestehend bei bek. pAVK. Schmerzen in der Leiste bei gleichzeitig noch tastbaren Leistenpulsen spricht für mich auch eher gegen ihre arterielle Genese. Die (akut zunehmende?) Schwellung des Unterschenkels deutet eher auf eine Thrombose, dazu würde die Loslösung eines Thrombus bei Umlagerung passen und dann eine TIA (=> Krampfanfall) bei Septumdefekt… Ok, ein bisschen viel Spekulation. Wie wäre es mit einer weiteren Thrombose im linken Vorhof bei Vorhofflimmern? Dann könnte man sich jedenfalls den Septumdefekt sparen. Auszuschließen ist ein aortales Geschehen hier natürlich nicht. Geübte Sonografen können sich diesbezüglich und auch kardial einen raschen orientierenden Blick verschaffen.
    Andere Ursachen für den Krampfanfall? Soweit wir nicht wieder ein defektes BZ-Messgerät haben, ist die Hypoglykämie eher raus, aber ein bisschen Glukose würde hier nicht schaden. Posttraumatisch nach dem Sturzereignis? Dafür recht langes Intervall und zu schnelle Erholung. Evt. beginnende Sepsis (Temperaturerhöhung, Unruhe) bei unklarem Fokus (vielleicht doch was im Unterschenkel?) Für eine cerebrale RF im Sinne von Malignom sehe ich aktuell keine konkreten Hinweise. Die Ursache für den Sturz werden wir jetzt vor Ort nicht klären können, da kommt alles in Frage von gestolpert bis Synkope.
    Also: Bin etwas ratlos, habe ein eher mulmiges Bauchgefühl. Kein Stay and Play, rasch in eine Klinik mit Neurologie, Neuro- und Gefäßchirurgie. Innere setze ich voraus. Und ja: Intensivkapazität, da stimme ich Gerwin S. voll zu. Zumindest grobes Abklären einer Therapiebeschränkung vor Abfahrt! Während des Transports: Da im Moment eine eher niedriges Schmerzniveau vorzuliegen scheint, würde ich auf eine Analgesie verzichten. Ich möchte mir die Neurologie so unverfälscht erhalten, wie es vertretbar ist. Standard-Monitoring und verbalen Kontakt zur Patientin halten, um Veränderungen schnell zu erkennen. Volumen eher großzügig, soweit bei 22G-Zugang möglich. Auch ich würde mich hier gegen Heparin entscheiden. Midazolam liegt aufgezogen bereit.

  3. Weiterer Verlauf des Septemberfalls 2023 :
    Wie sich aus der Auswahl der Zielklinik von Steffi und Gerwin Santo ersehen lässt, ist das Spektrum der möglichen Diagnosen bei der Altenheimbewohnerin breit gestreut. Auch der hier involvierte Notarzt hätte sich ein Handheld-Ultraschallgerät vor Ort gewünscht, um eine rasche Klärung hinsichtlich der Gefäße zu erreichen.

    In Ermangelung einer präklinischen Sonographie sucht der Notarzt (genau wie Steffi und Gerwin Santo) nach einer Klinik mit breiterem Kompetenzspektrum und freier Intensivkapazität (Gefäßchirurgie, interventionelle Radiologie, Neurologie). Während des Transportes erfolgt eine moderate Glucosesubstitution. Die Patientin wird während des Transportes nun wacher und reagiert auf Ansprache einsilbig (Ja….nein…was ist passiert ? ) allerdings meistens nicht adäquat.

    Die Altenheimbewohnerin kann mit stabilen Vitalparametern (RR130 /90 mmHg, Puls : 85 -105/min , SaO2 : 92 %). Blutzuckerstix : 95 mg/dl. Tympanal gemessene Temperatur: 38,3°) in der Zentralen Notaufnahme der Klinik eingeliefert werden.

    Im Rahmen einer späteren telefonischen Verlaufsabfrage erfährt der Notarzt von einem thrombembolischen Ereignis (wahrscheinlich verursacht durch das neu aufgetretene Vorhofflimmern) . Bedauerlicherweise kommt es kurz nach stationärer Aufnahme zu einem erneuten generalisierten und prologniert verlaufenden Krampfanfall mit dabei erheblichem Aspirationsereignis. Trotz sofort eingeleiteter Therapie durch die Intensivmediziner kann eine kardiopulmonale Rekompensation nicht erreicht werden.. Die 80-jährige Frau verstirbt am zweiten Tag des stationären Aufenthaltes. Eine Obduktion ist angabegemäß nicht veranlasst worden.

    Dr. Gerrit Müntefering
    Chirurgie / Unfallchirurgie / Notfallmedizin
    Lessingstr. 26
    47445 Moers

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