Arbeitsgemeinschaft Notärzte in Nordrhein-Westfalen

 

Alarmierungsmeldung Freitag 23:45 Uhr:  

23-jährige weibliche Person mit Tablettenintoxikation

Ältere und aktuelle Vorgeschichte der Patientin:

Das NEF trifft 3 min nach dem RTW am Einsatzort ein (Einfamilienhaus in Dorfmitte).  Die Patientin sitzt auf dem Bett, sie ist wach, antwortet aber auf Ansprache nicht. Die Freundin der Patientin und ihr Vater sind anwesend. Der Vater der Patientin kann vom Notarzt zur Vorgeschichte Ihrer Tochter befragt werden:

Er berichtet, dass seine Tochter nach einer Missbrauchssituation durch ihren Freund seit 10 Jahren eine posttraumatische Belastungsstörung bestehen würde. In diesem Zusammenhang sind wiederholt Phasen von Autoaggression mit „Ritzen an Armen und Beinen“ aufgetreten. Sie sei bereits in mehreren psychiatrischen Institutionen in Behandlung gewesen. Dennoch sei es bereits 2-mal zu Suizidversuchen gekommen. zuletzt vor 4 Jahren mit Tabletten. Aktuell werde die Tochter in 14-tägigen Zeitabständen in einer psychiatrischen Institutsambulanz behandelt. Es ist eine Bedarfsmedikation mit Zolpidem eingeleitet worden (stärker schlafanstoßend wirkender Agonist an GABAA-Rezeptoren, ImidazopyridinAbkömmling mit einem den Benzodiazepinen ähnlichem Wirkspektrum). Heute Abend sei ihre Freundin zu Besuch gekommen und die beiden seien bereits früh auf dem Zimmer der Tochter verschwunden gewesen. Gegen 23:30 Uhr habe sich dann die Freundin, die vorher zum Rauchen auf den Balkon gegangen sei, beim Vater gemeldet und mitgeteilt, dass seine Tochter nach Genuss von höherprozentigem Alkohol wohl nun auch etliche Tabletten geschluckt habe.

Nach Sichtung von etlichen fast leeren Tablettenblistern habe der Vater sofort die Rettungsleitstelle alarmiert.


Situation vor Ort:

Im Zimmer steht eine halb leere 0,7 l Flasche Wodka 37 %, die von der Patientin angabegemäß im Lauf des Abends wohl allein getrunken worden sei. Es werden die auf dem Bett liegenden teilweise leeren Tablettenblister gesichtet. Danach mögliche orale Einnahme folgender Pharamka-Mengen: 80mg Zolpidem, 10 mg Amlodipin, 4500 mg Novaminsulfon und 2 Tabl. Tilidin/Naloxon (200mg/16mg).

Dann notärztliche Frage nach weiteren Tablettenzugriffsmöglichkeiten. Vom Vater wird sein Citalopram-Medikamentenbestand kontrolliert : Sichere Angaben zu fehlenden Tabletten können nicht gemacht werden.

 

Erstbefund:
Die 23-jährige Patientin antwortet nicht auf Ansprache durch das Rettungsteam und auch nicht auf die Ansprache durch ihren Vater.

Bei der orientierenden Erstuntersuchung deutlicher Foetor alkoholicus. Blutdruck 155 / 90 mmHg . Auffällig schneller Puls bei 160 / Minute. Bei der Pulspalpation sind anfänglich kurze arrhythmische Phasen feststellbar. Pulsoxymetrie: SaO2 91 %.
Tympanal gemessene Temperatur: 37,7 °c Pupillen mittelweit. Prompte Lichtreaktion.

Das abgeleitete 12-Kanal-EKG zeigt den nachfolgenden Befund:

 


 


 

Erstmaßnahmen:
Anlage eines intravenösen Zugangs am Handrücken. 
Blutzucker-Stix: 105 mg /dl.
Die erneute 12-Kanal-EKG-Ableitung bestätigt die tachykarde Frequenz von 160- 170 Aktionen/Minute. 

Ein Drogenscreening kann mangels Test-Equipment präklinisch nicht durchgeführt werden

Telefonische Kontaktaufnahme mit der Giftnotrufzentrale.

Welche Unklarheit wird diskutiert werden?

 

Welche präklinischen Maßnahmen?

Dr. Gerrit Müntefering
Arzt für Chirurgie / Unfallchirurgie / Notfallmedizin
Lessingstr. 26
47445 Moers

3 thoughts on “Fall des Monats Oktober 2023

  1. Was für eine widersprüchliche Symptomkonstellation! Als weitere Information fehlt mir noch folgendes: die Atemfrequenz und Atemgeräusch, der Muskeltonus (Zittern, Rigor, Hyperreflexie, Schlaffheit?), Haut feucht oder trocken, Peristaltik, die wahrscheinliche Zeitachse (wie lange ist die vermutliche Einnahme der Tabletten denn nun her?) und die Reaktion auf laute Ansprache, Berührung, Schmerzreiz. Hat man evt. den Eindruck, dass hier eher eine psychogene Abschottung vorliegt oder doch eine somatischer Grund vorliegt? Reagiert die Pat. vielleicht besser, wenn nur die Freundin und eine weibliche Retterin im Zimmer sind? Gibt es in der Anamnese noch Hinweise auf andere Besonderheiten (Trauma, Reise, illegale Drogen, …?)
    Zum Vorgehen: Bei aller Verwirrung liegt hier für mich ein mittelkritischer Zustand vor, d.h. keine akute Lebensgefahr, aber plötzliche Verschlechterung möglich: Also auf alle Fälle (wie hier erfolgt) einen Zugang legen und gut sichern. Weitere Bewertung im Ausschlussverfahren: Eine Ursache der Symptome außerhalb von Psyche oder Intox. finde ich nicht naheliegend. Die hier vorliegende Kombination von Plus- und Minussymptomen (RR+, HF+, Temp+, Vigilanz-, Motorik-, Atmung-) lassen sich meiner Meinung nach schlecht einer einzigen Ursache bzw. einem Toxidrom zuordnen. Also wahrscheinlich Misch-Intox und/oder Mischung aus Intox und psychogenem Stupor. Im EKG fällt mir eine im Verhältnis zum RR-Intervall lange QT-Zeit auf. Dies verstärkt den Verdacht der Citalopram-Einnahme (wenn denn das Zeitintervall passt). Die palpierten Rhythmusstörungen und die Plus-Symptome würden dazu passen. Es könnte auch bereits der Beginn eines Serotonin-Syndroms sein.
    Richtig sicher wäre ich mit hier nicht, was das Beste ist. Vorrangig würde ich einen schnellen Transport arrangieren in ein Haus mit Innere-Intensivkapazität, idealerweise mit Neurologie Für die Neuro würde ich aber keinen wesentlich längeren Transportweg in Kauf nehmen. NaBi würde ich anhängen, wenn ein Transport > 10min nötig ist, sich die QT-Zeit weiter verlängert oder höhergradige Rhythmusstörungen auftreten. Bereitschaft zur Absaugung, Intubation, Defibrillation, Krampfdurchbrechung (Midazolam aufziehen).

  2. Glaubt man den genannten Medikamentendosierungen, ist Amlodipin mit 10mg (normale Tagesdosis eines Erwachsenen) eher unkritisch, 4,5g Novalgin auch noch grenzwertig unkritisch und 2 Tbl. Tilidin ebenfalls noch keine lebensbedrohliche Überdosis, solange die Atmung erhalten ist (SpO2 91%…). Bleibt noch die doch deutlich erhöhte Menge Zolpidem.
    Mit der unklaren potentiellen Einnahme von Citalopram mit zusätzlich Alkohol wird es jedoch schwierig: es muss mit der Möglichkeit verschiedener Symptome gerechnet werden, wobei diese sich gegenseitig aufheben könnten. So auch wie von Steffi das Serotonin-Syndrom als DD benannt. Klinisch liegen hier in der Fallbeschreibung geschildert die Symptome Tachykardie, (komatöser) neurologischer Status sowie leichte Hyperthermie vor.
    Laut Amboss sind als Symptomtrias des serotonergen Syndroms benannt: Psychopathologische Auffälligkeiten, neuromuskuläre Hyperaktivität und autonome Instabilität! Die neuromuskuläre Hyperaktivität ist nicht beschrieben. Ebenso ist nichts von einer Hyperhidrosis beschrieben. Also eher unwahrscheinlich.
    DD malignes neuroleptisches Syndrom tritt wohl laut Amboss erst später innerhalb von 2 Wochen auf und geht wohl primär mit Rigor einher.
    DD kommt meines Erachtens eher ein zentrales anticholinerges Syndrom in Betracht. Allerdings fehlt hierzu die wohl typische Mydriasis. Im Fallbeispiel ist von mittelweiten Pupillen die Rede.
    Praktisch würde ich prüfen, ob Schutzreflexe/Abwehrreaktionen vorhanden sind, wenn ja, Zugang legen, Infusion laufen lassen und zügiger Transport primär definitiv auf eine internistische Intensivstation.
    Falls Schutzreflexe nicht vorhanden und auf starken Schmerzreiz/passives Armhalten übers Gesicht mit ungebremsten Fall des Arms ins Gesicht keine Abwehr-/Ausweichreaktion  großzügige Schutzintubation im RTW. Dann auch Anlage einer Magensonde und Versuch der initialen Absaugung. Falls laut Giftnotruf Aktivkohle gegeben werden sollte, wäre dies dann auch die Gelegenheit ohne erhöhtes Aspiratinsrisiko direkt zu beginnen (je eher desto besser).
    Die Frage nach der zu diskutierenden Unklarheit würde ich 1.) mit der Beschreibung der Pupillenweite als mittelweit und prompte Lichtreaktion beantworten. Zudem ist 2.) die Frage, um welche Form der Schmalkomplextachykardie es sich hier handelt. Im Extremitäten-EKG sieht es auf den ersten Blick leicht arrhythmisch aus, beim Zirkeln am Monitor erkennt man aber eine ziemliche Regelmäßigkeit der QRS-Abstände mit wahrscheinlich respiratorischer Arrhythmie. DD Sinustachykardie, DD AV-Reentry?
    Blind puffern mit NaBic würde ich persönlich nicht präklinisch.

    Bin gespannt auf die Auflösung.

  3. Weiterer Verlauf des Oktoberfalls 2023 :

    Zu den Fragen bzw. Anmerkungen von Steffi und Gerwin : Atemfrequenz lag bei 14 / min und auskultorisch feststellbare Vesikuläratmung. Der Muskeltonus ist allenfalls diskret erhöht ohne Zittern. Keine Hyperreflexie. Hautverhältnisse trocken. Reaktion auf Ansprache dann im RTW zumindest als Kopfhinwendung zum ansprechenden Ersthelfer. Schutzreflexe und Abwehrreaktionen sind nicht auffällig vermindert.

    Es erfolgt der Anruf bei der Giftnotrufzentrale:
    Die diensthabende Ärztin schätzt die mitgeteilte Medikamentendosis – wie unser Diskussionskreis – abgesehen von der Zolpidem-Dosis als bisher noch unkritisch ein. Bei unklarem Zeitpunkt der Medikamenteningestion wird eine präklinische Aktivkohle-Gabe nicht empfohlen, aber ein zügiger Transport unter Monitoring in eine Klinik mit freiem Intensivbett.
    Die mitgeteilte Schmalkomplex-Tachykardie kann von der Ärztin der Giftnotrufzentrale ebenfalls nicht klar zugeordnet werden. Eine präklinische Medikation wird bei noch akzeptabler Kreislaufsituation nicht empfohlen.
    In der Klinik soll dann ein breitgefächertes Drogen- und Medikamenten-Screening erfolgen.

    Der Transport in die Klinik verläuft bei leichtem Rückgang der Tachykardie und ansonsten stabilen Vitalparametern komplikationslos. Eine verbale Kommunikation kommt währen des Transports nicht zustande, wobei aber weiterhin eine gerichtete Kopfwendung auf Ansprache erkennbar ist.

    Direkte Aufnahme der Patientin auf die Intensivstation der Klinik.

    Bei einer späteren notärztlichen Verlaufsabfrage hat das durchgeführte Alkohol-, Drogen- und Medikamenten-Screening einen Blutalkoholspiegel von 2,0 Promille und tatsächliche einen deutlich erhöhten Medikamentenspiegel von Citalopram ( als selektiver Serotonin-Wiederaufnahmehemmer => SSRI) ergeben. Ein dazu passendes serotonerges Syndrom mit Rigor, Tremor und Myoklonien, Krampfanfällen, Parästhesien sowie eine generalisierte Reflexsteigerung waren allerdings nicht erkennbar gewesen. Als einziges vegetatives Symptom ist die Tachykardie hinweisend gewesen.
    Bei Patienten, die Zolpidem zusammen mit Antidepressiva wie Citalopram oder Sertralin als Serotonin-Wiederaufnahmehemmer einnahmen, wurde zudem laut Bfarm über vereinzelte Fälle von visuellen
    Halluzinationen berichtet, die bei der Patientin aber ebenfalls nicht aufgetreten sind. Die gleichzeitige Einnahme von Citalopram mit zusätzlich Alkohol mag hier bezüglich der Symptomatik verschleiernd gewirkt haben.

    Die Patientin wurde nach komplikationsloser Überwachungsphase auf der Intensivstation und Sistieren der Tachykardie bereits in der Nacht am Folgetag dann in der psychiatrischen Klinik vorgestellt.

    Fazit:
    Misch-Intoxikationen geben immer große Rätsel auf. Ein möglichst sorgfältige Vor-Ort-Abklärung der möglicherweise aufgenommenen Pharmaka oder Drogen ist ratsam, sowie die Kontaktaufnahme mit der Giftnotrufzentrale und ein zügiger Transport zum Drogen-Screening (falls eine Akutintervention vor Ort bei Vitalgefährdung nicht erforderlich wird). In unserem Fall war auch die Recherche aller im Nahbereich erreichbaren Medikamente nützlich gewesen.

    Dr. Gerrit Müntefering
    Arzt für Chirurgie / Unfallchirurgie / Notfallmedizin
    Lessingstr. 26
    47445 Moers

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