Arbeitsgemeinschaft Notärzte in Nordrhein-Westfalen

Fall passend zur Diskussion am Ende der letzten AGNNW-Online-Fortbildung im Juni 2023:

 

Alarmierungsmeldung am Freitag um 19 Uhr: Gestürzte Person, Sturz  > 3 Meter

 

Die Alarmierungsmeldung erweist sich nach Eintreffen an der Einsatzstelle als sehr unpräzise. Das Rettungsteam wird zu einem BMX-Fahrrad-Parcour geleitet, der hinter einer Gesamtschule liegt.

Das Rettungsteam wird dann zu einer Halfpipe heran gewunken.

Genau in der Senke der Halfpipe liegt ein 12-jähriger Junge auf dem Rücken in seinem Erbrochenen. Ein BMX-Fahrradhelm liegt neben dem Kopf. Der Helm ist von einem nicht fachkundigen Ersthelfer abgenommen worden. Der Helm ist nicht lädiert. Der Jugendliche öffnet auf Ansprache die Augen und schaut gerichtet zum ansprechenden Notfallsanitäter.

Nach Angaben seiner anwesenden Freunde ist der Jugendliche auf dem Oberen Rand der Halfpipe mit seinem BMX-Rad weggeglitten und anschließend mit dem Kopf voran in die Halfpipe-Senke gestürzt und mit dem Gesicht aufgekommen.

Die Höhendifferenz zwischen Halfpipe-Oberkante und der Senke beträgt ca 1,5 Meter.

Nach Angabe der Freunde sei der Gestürzte anschließend für 3 bis 4 Minuten nicht ansprechbar gewesen. Danach wäre er langsam wieder zu sich gekommen und habe sich sofort übergeben müssen.

Der Jugendliche trägt Oberkörperprotektoren mit Brust- und Rückenschild, die noch korrekt anliegen.

 

Erstbefund:

12-jähriger Jugendlicher mit unauffälligem Hautaspekt. Keine Blässe.

Im Gesichtsbereich mehrere teilweise etwas tiefere Hautabschürfungen im Wangen- , Schläfen- und Augenbrauenbereich links , oberhalb der linken Augenbraue ist eine 5 cm lange Platzwunde sichtbar.

Keine Blutung aus den Gehörgängen, keine Epistaxis. Keine Seitabweichung oder Höckerbildung der Nasenkontur. Lippen unauffällig, Kein Zahnverlust. Orientierend auch keine Zahnläsion.

Oberkiefer und Unterkiefer bei vorsichtiger Palpation unauffällig ohne Instabilität.

Pupillen mittelweit, isokor, Reaktion auf Licht und Konvergenz prompt.

Blutdruck bei 125/70 mmHG , Herzfrequenz bei 105 / min rhythmisch. Atemfrequenz bei 12-14 / min. Lunge auskultatorisch seitengleich belüftet, keine Schonatmung, Atemexkursionen beider Thoraxhälften seitengleich regelrecht. keine Instabilität oder Crepitation. Sauerstoffsättigung bei 93 %.

Abdomen weich ohne Abwehrspannung. Becken stabil. Die Untersuchung der oberen und unteren Extremität ergibt keinen Frakturanhalt, keine auffälligen Schwellungen oder Prellmarken. Periphere Sensibilität orientierend regelrecht.

 

Estbehandlung:

Im Bereich beider Unterarme werden 2 i.v. Zugänge angelegt.

 

Es wird die Notwendigkeit eines schonenden und raschen Transports gesehen. Bei bekannter erheblicher Stausituation auf den näheren Bundesstrassen und Autobahnen, wird der in der Nähe stationierte Rettungshubschrauber als geeignetes Tarnsportmittel angesehen

 

Seit Eintreffen des Rettungsteams wurde bei dem auf dem Rücken liegenden Patienten die manuelle-Inline-Stabilisation der Kopf-Nackenregion durchgeführt.

Der Jugendliche liegt schräg in der Senke der Halfpipe.

 

Welche Hilfsmittel sind zur sicheren Umlagerung und Transportvorbereitung sinnvoll?

 

(Nexus / Canadian C-Spine rule …)

 

Dr. Gerrit Müntefering
Chirurgie / Unfallchirurgie / Notfallmedizin
Lessingstr. 26 

47445 Moers

 

 

Die Immo-Ampel für erwachsene auskunftsfähige Patienten:


 

ABC-Probleme bei instabilen Patientinnen und Patienten sind prioritär gegenüber der Immobilisation zu behandeln. Bei „gelben“ Patienten beziehungsweise Patienten mit > 1 Punkt der 4S sollte gut begründet werden, warum nach entsprechender Risikoabwägung keine Immobilisation, sondern nur eine Bewegungseinschränkung durchführt wurde. Der subjektive Parameter „Schmerz“ erfordert eine Einschätzung und Interpretation durch Fachpersonal ebenso wie der Parameter „offensichtlich schwer verletzt“[1]

 

[1] Häske D, Blumenstock G, Hossfeld B, Wölfl C, Schweigkofler U, Stock JP: The Immo traffic light system as a decision-making tool for prehospital spinal immobilization—a systematic review. Dtsch Arztebl Int 2022; 119: 753–8. DOI: 10.3238/arztebl.m2022.0291

 

Die NEXUS Cervical Spine Rule

 

Die NEXUS-Studie formuliert fünf Kriterien, bei deren Fehlen eine Verletzung der Halswirbeläule unwahrscheinlich ist:

 

-Bewusstseinsstörung.

-fokalneurologisches Defizit.

-Druckschmerz über der Mittellinie der HWS oder Muskelhartspann.

-Intoxikation

Entscheidungspfad der NEXUS Cervical Spine Rule

Kriterien der NEXUS Cervical Spine Rule

-Fehlender Druckschmerz über der Mittellinie der HWS

-Kein fokales neurologisches Defizit

-Normale Vigilanz (GCS 15)

-Kein Hinweis auf Intoxikation

-Keine weitere von der HWS-Verletzung ablenkende andere schwere Verletzung [2]

 

 [2] Hoffman, J. R., Wolfson, A. B., Todd, K., Mower, W. R., & NEXUS Group. (1998). Selective cervical spine radiography in blunt trauma: methodology of the National Emergency X-Radiography Utilization Study (NEXUS). Annals of emergency medicine, 32(4), 461-469.

 

Die Canadian-C-Spine-Rule

Die Canadian-C-Spine-Rule definiert klinische Parameter, mit denen man nach einem HWS-Trauma die Indikationsstellung für eine bildgebende Diagnostik überprüfen kann. Sie differenziert Hochrisiko- und Niedrigrisikofaktoren. Häufig wird sie auch benutzt, um über eine Wirbelsäulenimmobilisation zu entscheiden.

Hochrisikofaktoren

-Alter > 65 Jahre

-Gefährlicher Unfallmechanismus (z.B. Sturz aus mehr als 2 m Höhe, Schlag oder Sturz auf den Kopf)

Parästhesien in den Extremitäten

Ist eines dieser 3 Risiken erfüllt, ist eine bildgebende Diagnostik und eine Immobilisation indiziert.

Niedrigrisikofaktoren

-Einfacher Auffahrunfall

Ambulanter Aufnahmestatus

-Sitzende Position in der Ambulanz

-Verzögerter Schmerzbeginn

-Fehlender Druckschmerz

Sind diese Kriterien erfüllt, wird die Rotationsfähigkeit der Halswirbelsäule (45 Grad) überprüft. Ist die Rotation nicht beeinträchtigt, ist keine bildgebende Diagnostik und keine Immobilisation notwendig.[3]

[3]Saragiotto BT, Maher CG, Lin CWC, Verhagen AP, Goergen S, Michaleff ZA. Canadian C-spine rule and the National Emergency X-Radiography Utilization Study (NEXUS) for detecting clinically important cervical spine injury following blunt trauma. Cochrane Database of Systematic Reviews 2018, Issue 4. Art. No.: CD012989

2 thoughts on “Fall des Monats Juli 2023

  1. Hallo, Glück gehabt!
    Nach deiner Anamnese wäre meins weitere Vorgehen:
    eFast, Stiff-Neck, Vakuummatraze. Analgesie etc. scheint ja nicht erforderlich zu sein. Ggf. Antiemetika um nicht im RTH etwas zu provozieren, Magen scheint aber leer zu sein.

    Hört sich nach einer Commotio an. CCT wäre erforderlich und 48h Überwachung (idR wird das aber durch die Eltern verkürzt:)

  2. Weiterer Fallverlauf des Juli-Falls :

    Aufgrund der anamnestischen Angaben zum Unfallhergang und zur primären Bewussstlosigkeit des Jugendlichen ist im aktuellen Fall doch eine Immobilisierung zur Sicherung des RTH-Transports erwogen worden

    Bezogen auf den NEXUS Cervical Spine Rule würde bei „GCS < 15“ (im aktuellen Fall zumindest 14) bereits eine Indikation zur HWS-Immobilisierung bestehen. Auch gemäß Canadian-C-Spine-Rule würde bei Sturz auf den Kopf ein „gefährlicher Unfallmechanismus“ mit indizierter HWS-Immobilisierung anzunehmen sein.
    Die Fallbeurteilung gemäß IMMO-Ampel sieht allerdings keinen Grund zur HWS-Immobilisierung.

    Unter Fortsetzung der manuellen Inline-Stabilisierung erfolgt das Unterlegen einer Schaufeltrage und der Transfer des Jugendlichen auf die Vakuum-Matratze, die anschließend im Kopf-Halsbereich Headbloc-ähnlich anmodellliert werden kann.
    Nach Landung des Rettungshubschraubers und erfolgtem Übergabe-Gespräch bittet der Hubschrauber-Notarzt um eine partielle Belüftung der Vakuum-Matratze, um die Anlage einer HWS-Orthese zu ermöglichen.

    Der Wechsel des Stabilsierungssystems erfolgt unter erneuter manueller Inline-Stabilisierung problemlos.
    Nach telefonischer Mitteilung der aufnehmenden Unfallklinik ist der RTH-Transport des Jugendlichen ohne Komplikationen verlaufen.

    Die weitere Diagnostik ergab das Vorliegen einer nicht dislozierten linksseitigen Mittelgesichtfraktur, Der Jugendliche ist über 2 Tage auf der Intensivstation überwacht worden. Er konnte anschließend auf die periphere Station verlegt werden und nach 6 Tagen annähernd beschwerdefrei aus der stationären Behandlung entlassen werden..

    Bekannte Entscheidungskriterien zur Immobilisation der HWS werden am Schluss des Juli-Falls auf der AGNNW-Webseite präsentiert
    – Die IMMO-Ampel
    – Die Entscheidungspfade der NEXUS Cervical Spine Rule
    – Die Entscheidungspfade der Canadian-C-Spine-Rule

    Dr. Gerrit Müntefering
    Chirurgie / Unfallchirurgie / Notfallmedizin
    Lessingstr. 26
    47445 Moers

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