Fall des Monats Februar 2022

Zum 20-jährigen Jubiläum der Initiative „Fall des Monats“ der AGNNW

präsentieren wir nochmals den Fall des Monats „Nummer 1“  aus dem Monat Februar 2002

 

Notfallmeldung :

Gegen 2 Uhr nachts Eingang der Notfallmeldung eines PKW-Fahrers in der örtlichen Rettungsleitstelle. Der Anrufer (PKW-Fahrer) ist von einer weiblichen Person auf einer Landstraße angehalten worden. Die weibliche Person suchte um Hilfe, da ihr Partner mit dem Fahrrad schwer gestürzt sei.

Situation vor Ort:.

NEF und RTW treffen ca. 5 Minuten nach Alarmierung an der angegebenen Unfallstelle ein (wenig befahrene Landstraße mit Fahrradweg).

Eine männliche Person jüngeren Alters wird auf einem Grasstück seitlich des Fahrradweges auf dem Rücken liegend aufgefunden. Die verwaschene Sprache des sich spontan äußernden Verletzten weisen auf einen stärkeren Alkoholgenuß hin. 2 Meter weiter liegt ein unbeschädigtes Fahrrad. Anwesend ist die o.g. Begleiterin des verletzten Fahrradfahrers. Diese kann zum Unfallhergang befragt werden.

Anamneseerhebung / Rekonstruktion des Unfallhergangs :

Der Unfallverletzte ist nach vorherigem Alkoholgenuss mit dem Fahrrad gegen einen seitlich des Radweges stehenden Laternenpfahl gefahren. Durch die Wucht des Anpralls ist er vom Radweg abgekommen und mit dem Vorderrad in einen Graben gefahren und hat sich anschließend mit dem Fahrrad überschlagen. Nach Angaben seiner Begleiterin ist er nach diesem Sturz sofort ansprechbar gewesen. Er habe sofort über stärkere Schmerzen im Nackenbereich geklagt. Schmerzbedingt konnte er anschließend nicht mehr aus der liegenden Position aufgerichtet werden.

Erstbefund :

Auf dem Rücken liegend wird ein ca. 30-jähriger Mann aufgefunden. Bei den Äußerungen des Verletzten ist ein deutlicher Foetor alkoholicus feststellbar.

Er reagiert auf Ansprache mit adäquater Blickwendung. Der Verletzte ist sehr unruhig. Befragt nach Schmerzen klagt der Verletzte über Schmerzen im Hinterhauptsbereich des Schädels sowie über stärkere Schmerzen im Nackenbereich. Bevor die Ersthelfer ihn erreichen, versucht der agitierte Verletzte, den Oberkörper aufzurichten bzw. den Kopf anzuheben. Diese Kopfvorneige-Bewegung ist schmerzbedingt jedoch nur ansatzweise ausführbar. Es ist auffällig, dass der Verletzte dabei die obere Halsregion durch seine im Nackenbereich zusammengeführten Hände zu stabilisieren versucht. Mit deutlicher Schmerzäußerung lässt er dann den Kopf sofort wieder zu Boden sinken.

Der Verletzte wird sofort eindringlich ermahnt, ruhig liegen zu bleiben. Alkoholbedingt ist die Compliance jedoch schlecht, so dass die Rettungsassistenten den Verletzten unter Gewaltanwendung am Boden halten müssen. Er leistet gegen diese fixierenden Maßnahmen mit Armen und Beinen Widerstand. Eine motorische Schwäche bzw. Minderinnervation der Extremitäten ist somit augenscheinlich nicht vorhanden.

Bei der orientierenden Erstuntersuchung  kein Hinweis für ein Thoraxtrauma bei regelrechten Atemexkursionen beider Thoraxhälften. Keine Dyspnoe. Die Kontur des Abdomens und die Bauchdeckenspannung sind unauffällig.

Der periphere Arterienpuls ist kräftig tastbar. Eine Pupillendifferenz kann nicht festgestellt werden. Die Lichtreaktion beider Pupillen ist vorhanden, wenn auch leicht verlangsamt.

Erstmaßnahmen und weiterer präklinischer Verlauf:

Die Rettungsassistenten versuchen, weitere Bewegungen des Kopfes bzw. des Nackens auch gegen den Widerstand des alkoholisierten Patienten zu verhindern. Ein Rettungssanitäter stabilisiert die Kopfregion, während zwei Kollegen den nicht kooperativen, Widerstand leistenden Verletzten an beiden Schulterpartien auf dem Boden halten.

Zur Ruhigstellung der schmerzhaften Nackenregion wird unverzüglich ein Stiffneck-Kragen angelegt. Der alkoholisierte Verletzte versucht, auch gegen die Anlage dieses Halskragens Widerstand zu leisten, kann jedoch an der Entfernung der Orthese gehindert werden.

Ein intravenöser Zugang wird auf dem Handrücken angelegt.  Der BZ-Wert wird dabei geprüft und eine Hypoglykämie kann ausgeschlossen werden.

Unter energischer Ansprache durch die Ersthelfer kann der Widerstand des alkoholisierten Patienten gegen die Erstmaßnahmen schließlich gebrochen werden, ohne dass die Gabe sedierender Medikamente erforderlich wird.

Nun ist eine weitergehende Untersuchung des etwas kooperativeren Verletzten möglich :

Bei der Untersuchung der Kopfregion sind keine Schürfungen oder lokale Schwellungen im Bereich des behaarten Kopfes und der Hinterhauptsregion festzustellen. Pupillen mittelweit isokor, Reaktion auf Licht und Konvergenz diskret verlangsamt (nach Alkoholgenuss), jedoch seitengleich prüfbar.

Hinweise auf Extremitätenverletzungen finden sich nicht. Periphere Sensibilität im Bereich der oberen und unteren Extremität regelrecht.

Auch eine Befragung des Verletzten zum Unfallhergang und die Prüfung des Erinnerungsvermögens zur Abklärung mnestischer Lücken ist nun möglich :

Der Verletzte kann sich an die Vorereignisse am Unfalltag vor dem Sturz bis einschließlich des Anpralls gegen den Laternenpfahl erinnern.

 

 

Transportvorbereitung:

Lagerung des Patienten auf einer Vakuum-Matratze.

 

 

 

 

Verdachtsdiagnose ?                 Zielklinik ?

 

Dr. med. Gerrit Müntefering

Arzt für Chirurgie / Unfallchirurgie

Lessingstraße 26

47445  Moers

 

Bilder zur Auflösung:

2 thoughts on “Fall des Monats Februar 2022

  1. Auflösung zum Fall des Monats Februar 2002:

    Weiterer Fallverlauf in der erstversorgenden Klinik :

    Kollege Kratzer hat den richtigen Riecher gehabt !!

    Es wird ein Krankenhaus der Maximalversorgung angefahren.
    Der Verletzte wird in der ZNA an den diensthabenden Unfallchirurgen übergeben.
    Bei der neurologischen Kontrolluntersuchung durch den Arzt der Notaufnahme weiterhin unauffälliger Befund ,keine sensomotorischen Defizite.

    Ergebnis der stationären Diagnostik und weiterer Verlauf :

    Es wird eine Röntgendiagnostik des Schädels und der HWS veranlasst.
    Die HWS-Aufnahmen zeigen Hinweise für eine Fraktur im Kopfgelenksbereich.

    Das daraufhin durchgeführte HWS-CT zeigt eine Atlasbogenfraktur sowie eine Frakturlinie im Bereich des 2. Halswirbels in Höhe der Densbasis.
    Im CT ist eine traumabedingte Raumforderung auf Myelon oder Wurzeln nicht erkennbar.
    Da auch in der Folgezeit neurologische Ausfälle nicht auftreten, wird die Fraktur zunächst konservativ mit einer Cervikalstütze behandelt.
    Der Patient wünscht keine Operation.
    Die Entlassung des Patienten erfolgt nach 8-tägigem stat. Aufenthalt auf eigenen Wunsch.

    Die Röntgen- und CT-Bilder sind in Kürze auf der AGNNW-Homepage am Schluss des Februarfalls zu sehen.

    Dr. med. Gerrit Müntefering
    Arzt für Chirurgie / Unfallchirurgie
    Lessingstraße 26
    47445 Moers

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