Fall des Monats Juni 2021

Alarmierungsmeldung:

Sonntag morgen, 3:30 Uhr „Bewusstlosigkeit, männlich, 50 Jahre“.

Vorabinformation der Leitstelle:
Auf der Anfahrt zu dem in einer kleinen ländlichen Siedlung befindlichen Haus informiert die Leitstelle, daß man die hysterische Anruferin nicht beruhigen und zur Tele-Reanimation habe anleiten können. Die Polizei sei mit alarmiert wegen der unklaren Situation.

Eintreffsituation:
Die Besatzung des zuerst eintreffenden RTWs beginnt bei dem 50-jährigen leichenblassen Patienten, der leblos in der Küche auf dem Boden liegt, mit Herzdruckmassage, worauf dieser dann aber mit Abwehrbewegungen reagiert. Bei Eintreffen des Notarztes ist der Patient bewußtlos, aber vital stabil (RR 135/79mmHg, Puls 88/min, SaO2 92%, Blutzucker 140mg/dl).

Angaben zur Vorgeschichte und Situation vor Ort:
Aus dem Nachbarzimmer dringt eine hysterische Frauenstimme. Dort versuchen die Polizisten, die massiv agitierte Lebensgefährtin des Patienten zu beruhigen und zu befragen, was nur eingeschränkt gelingt. Letztlich ist nur herauszubekommen, daß der Patient große Angst vor dem Corona-Virus habe und daß man abends Tee getrunken habe. Ihm sei dann schlecht geworden, er habe erbrochen und sei dann in der Küche zusammengebrochen. Alkohol- oder anderer Drogenkonsum werden verneint, Medikamente würden nicht eingenommen. Als Vorerkrankung nur starker Heuschnupfen.In der Küche stehen mehrer Töpfe mit Teebeuteln (Ingwertee) auf dem Herd, ansonsten ist das häusliche Umfeld gepflegt und ohne Auffälligkeiten. In einem Zinkeimer befindet sich wäßriges Erbrochenes.

Erstbefunde:
Der gepflegt wirkende Patient ohne Zeichen von Einstichstellen an den Armen oder ähnliche Stigmata öffnet auf Schmerzreiz die Augen und kommt langsam etwas zu sich. Die Vitalzeichen bleiben stabil. Das EKG zeigt einen unauffälligen Sinusrhythmus. Der Patient ist weiterhin somnolent, verneint Schmerzen und kann langsam ein paar Aufforderungen befolgen. Eine unter diesen eingeschränkten Bedingungen durchgeführte orientierend-neurologische Untersuchung ergibt keinen Hinweis auf ein fokal-neurologisches Defizit.

Fragen:

Weitere Maßnahmen vor Ort?
Weiteres Prozedere?
Welche Zielklinik ?
KH der Regelversorgung in 20 min Fahrtzeit ? oder Klinik der Maximalversorgung inkl. Neurochirurgie in 35 min Fahrzeit?

eingereicht von:

Dr. Markus Linhart
Notarztstandort Königswinter

3 thoughts on “Fall des Monats Juni 2021

  1. Danke für diesen Fall:
    Ich fürchte, die Angst des Pat vor dem Virus hat ihn in die Hand einer veritablen allergischen Reaktion gebracht, die beiden haben ja offensichtlich Kräutersuds hergestellt ( der Ingwer“tee“) und getrunken mit der heftigen intestinalen Reaktion und dem folgenden Kreislaufzusammenbruch.
    Eine neurochirurg Veränderung – Bltg, Ruptur der Gefäße, Ischämie- waren nach der „Tatort“beschreibung nicht im Vordergrund zu betrachten, ist diffdiagnostisch aber in der Hinterhand zu diskutieren.
    Nach erster antiallergischen Behandlung, bei weiterhin akzeptablen Kreislaufsituation, würde ich hier eher das regelversorgende Krhs ansteuern, bei Situationsverschlechterung und bei Hinweis auf eher cerebraler Zuordnung wäre eine Zieländerung zu erwägen

  2. Eine interessante Kasuistik. Prinzipiell würde man ja geneigt sein, bei einer „zentralen Problematik“ – hier die „Bewusstlosigkeit“ – ohne Schmerzen primär zumindest auch eine neurologische Ursache zu vermuten. Besonders der Hinweis „kommt langsam zu sich“ lässt ja schon ein stattgehabtes Krampfereignis vermuten. Den Hinweis des Vorschreibers mit der „allergischen Reaktion“ finde ich nicht schlecht, aber würde ich doch eher hinten anstellen, zumal H1/H2-Blocker ja bekanntlich auch die Vigilanz zusätzlich mindern könnten. Vorrang hätte meines Erachtens definitiv ein schnellstmögliches CCT mit fach-neurologischer Begutachtung.

    Differenzialdiagnostisch: „Leichenblass“ lässt ja auch an eine potentielle (chronische) Anämie denken – hierzu passend auch Oxygenierungsstörung. In diesem Zusammenhang denke ich z.B. auch an die Möglichkeit einer Ammoniakvergiftung als prinzipieller Auslöser einer Bewusstseinstrübung bei z.B. nicht vorbekannter Leberproblematik oder GI-Blutung.
    Auch einen stattgehabten Stromunfall könnte man für differentialdiagnostisch möglich halten (unbeobachteter(?) Kollaps in Küche), aber sehr unwahrscheinlich.
    Internistischerseits kann z.B. auch eine Synkope bei z.B. Aortenklappenstenose in Betracht kommen. Elektrolytstörungen mit maligner HRST? Beginnende Sepsis bei noch unklarem Fokus?

    Solange die Schutzreflexe erhalten sind, wäre mein Plan: Temperatur zur Vervollständigung messen, 1x Zugang legen, Gabe von Ondansetron i.v. gegen die potentielle Übelkeit, moderate i.v.-Flüssigkeitsgabe, Krankenhaus mit CT-Möglichkeit ansteuern und möglichst Innere/Neuro im selben Haus.

  3. Weiterer Verlauf des Juni-Falls 2021:

    Da der Patient keine klaren Hinweise auf ein fokal-neurologisches
    Geschehen zeigt, die einen Transport in das Zentrum der
    Maximalversorgung gebieten würden, und vor Ort keine weiteren
    Erkenntnisse zu gewinnen sind, wird nach Voranmeldung die Notaufnahme des
    nächstliegenden Krankenhauses angefahren.
    Während der Fahrt wird der Patient etwas klarer. Er verneint Schmerzen
    und äußert starkes Durstgefühl. Mühsam lassen sich folgende Auskünfte
    von ihm erfragen: Eine Arbeitskollegin von ihm sei letzte Woche positiv
    auf das Coronavirus getestet worden. Obwohl er selber keinerlei
    Covid-typischen Symptome hatte, habe er aber dennoch große Sorge vor der
    Infektion mit dem Virus. Seine Lebensgefährtin habe ihm geraten, das
    (bei ihm ja wahrscheinlich gar nicht vorhandene) Virus
    „auszuschwitzen“, und so habe er an dem Abend 5-7 Liter Ingwertee
    getrunken (nach der Anzahl der auf dem Herd stehenden Töpfe zu urteilen,
    ist die angegebene Menge durchaus möglich). Dann sei ihm schlecht
    geworden und er habe erbrechen müssen. Mit diesen Informationen wird der
    Patient weiterhin somnolent mit stabilen Vitalparametern dem
    internistischen Kollegen des aufnehmenden Krankenhauses übergeben.
    Eine spätere telefonische Nachfrage ergab bei Aufnahme ein Serum-Natrium
    von 122mmol/l. Der Patient war weiterhin stabil.
    Diagnose: Hyponatriämie durch psychogene Hyperhydratation

    Diskussion:
    Akute starke Schwankungen des Serum-Natriumspiegels können
    lebensbedrohlich sein. Der Schweregrad der Symptome spiegelt im
    Allgemeinen den Schweregrad der zerebralen Überwässerung wider. Das
    besonders gefürchtete osmotische-Demyelinisierungssyndrom (klassische
    Manifestation: zentrale pontine Myelinolyse, Beispiel: DOI:
    10.1056/NEJMicm1504134) scheint hingegen nur bei Patienten mit
    Natriumschwankungen unter chronischer Hyponatriämie (>48 h) aufzutreten
    (Übersicht: Dtsch Arztebl Int 2019; 116: 600–6. DOI:
    10.3238/arztebl.2019.0600). Auf die Behandlung der Hyponatriämie wird an
    dieser Stelle nicht eingegangen, da sie außerhalb des Handlungsbereichs
    des Rettungsdienstes liegt. Bezüglich des Ingwers ergibt eine kurze
    Literaturrecherche keinen Hinweis auf eine spezifische Toxizität, wobei
    Paracelsus hier wahrscheinlich widersprechen würde.
    Während die Verleugnung oder das Herunterspielen der Gefährlichkeit von
    SARS-CoV-2 häufig Gegenstand von Diskussionen ist, werden die durch die
    Pandemie ausgelösten (übertriebenen oder irrationalen) Ängste oder die
    Verstärkung von Angststörungen kaum thematisiert. Im hier vorgestellten
    Fall hat die Kombination von geradezu panischer Angst vor dem
    Coronavirus mit falsch, oder eher gar nicht verstandenem Einsatz eines
    sogenannten Hausmittels zu einem lebensbedrohlichen Krankheitsbild
    geführt.

    Dr. Markus Linhart
    Notarztstandort Königswinter

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