Fall des Monats Dezember 2016

Alarmierungsmeldung:

Notarzt-Nachforderung durch RTW

18-jährige Frau mit Nierenkolik

Situation vor Ort:

Das Notarzteinsatzfahrzeug betrifft 6 Minuten nach Alarmierung am Einsatzort ein. Die Patientin ist bereits im RTW auf der Trage gelagert. Die erstversorgenden Rettungsassistenten

informieren den Notarzt, dass bei der 18-jährigen Patientin eine Schwangerschaft in der 18. Schwangerschaftswoche bestehe.

Eine Flüssigkeitsdurchfeuchtung der Unterwäsche ist nicht aufgetreten. Auffälligkeiten beim Wasserlassen (dunkelbraune oder rote Urinverfärbung)  haben nicht bestanden. Bei vorangegangenem kurzzeitigen Sistieren der kolikartigen Flankenschmerzen konnten die Rettungsassistenten die Patientin unterstützt eine kurze Wegstrecke bis zur RTW-Trage führen.

Bei aktuell bestehender Schmerzpause kann die Patientin zur Vorerkrankung und zur Vorgeschichte befragt werden. Sie gibt an, dass die re. Niere im Alter von 10 Jahren aufgrund einer schweren Dysfunktion ( Schrumpfniere ? ) entfernt werden musste.  Die nun festgestellte Schwangerschaft sei bis vor 1 Woche unauffällig verlaufen. Vor 1 Woche musste die Patientin aufgrund einer Pyelonephritis der verbliebenen linken Niere stationär aufgenommen werden.

Die stationäre Behandlung dauerte nur 5 Tage und wurde 2 Tage zuvor auch auf Drängen der Patientin beendet.

Gefragt zu weiteren Erkrankungen oder Unverträglichkeiten gibt die Patientin an, dass sie im Rahmen einer vor 4 Jahren durchgeführten Pelviskopie nach Beendigung der Narkose mit starker Übelkeit und Erbrechen reagiert habe. Man habe damals dass Schmerzmedikament als Ursache in Verdacht gehabt.

Nun sind seit ca. 30 Minuten wiederholt stärker zunehmende linksseitige Flankenschmerzen aufgetreten, die kurzzeitig auch in den Unterbauch ausgestrahlt hätten.

Auffälligkeiten beim Wasserlassen oder ein Blut- oder Flüssigkeitsabgang mit Durchfeuchtung der Unterwäsche werden von der Patientin nochmals verneint , so das in Anbetracht des Alters der Patientin und des trockenen Aspektes der getragenen Jogginghose auf eine weitere Inspektion der Schamregion und des Introitus verzichtet wird.

Erstmaßnahmen:

Anlegen eines intravenösen Zugangs und Gabe von Vollelektrolytlösung.

Anlegen der Pulsoximetrie und eines Extremitäten-EKG’s zum Monitoring

Blutdruck 110/70 mmHg,  Pulsfrequenz zwischen 86 und 96 Schlägen/min

Sauerstoffsättigung bei 94% .

Unmittelbar nach Anlage des i.v.-Zugangs tritt ein stärkerer Schub von Flankenschmerzen auf.

Medikamentenbestand des NEF / RTWs

Im Medikamentenbestand des NEF / RTWs sind nachfolgende Medikamente zur analgetischen Therapie vorhanden:

– Fentanyl

– Morphiumhydrochlorid

– Metamizol

Als Medikation mit spasmolytischer Wirkung sind vorhanden:

– N- Butylscopolamin

– Nitrospray  

Für einen geburtshilflichen Notfall ist im Medikamentenbestand des RTW / NEF nur das „Oxytozin“ gelistet und für  die SIH / Gestose das Magnesium.

Einige der in geburtshilflichen Notfallkursen angesprochenen und in der Schwangerschaft anwendbaren Pharmaka sind

nicht vorhanden:

– Fenoterol-Lösung zur i.v.-Gabe :z.B. Partusisten

– Fenoterol-Dosieraerosol z.B. Berotec-DA

– Paracetamol-Lösung zur i.v.-Gabe z.B. Perfalgan

– Oxytozinantagonisten (Atosiban,Tractocile®)

– und  das (umstrittene, aber teilweise von gynäkologischer Seite empfohlene) Nifedipin

Weiteres Procedere ?

 

Welche Zielklinik mit welchem Level als Perinatalzentrum ?

 

Dr. Gerrit Müntefering

Arzt für Chirurgie/Unfallchirurgie/Notfallmedizin

Lessingstraße 26

47445 Moers

4 thoughts on “Fall des Monats Dezember 2016

  1. Seid gegrüßt liebe Notfallmediziner,

    eine Nierenkolik während der Schwangerschaft stellt ja keine ungewöhnliche Komplikation dar. Dennoch sollte an Differentialdiagnosen wie eine Appendizitis, EUG (hier aufgrd. unauff. Verlaufskontrolle unwahrscheinlich), oder vorzeitige Wehen gedacht werden (untyp. Schmerzlokalisation unilateral).
    Neben einem zügigen Transport der Patientin steht hier die Analgesie im Vordergrund: Beschrieben werden kolikartige Schmerzen, was den Einsatz von 20mg N-Butylscopolamin in erster Wahl rechtfertigt. Auf die Kombination mit Metamizol sollte eigentlich wegen des vorzeitigen Verschlusses des Ductus art. Botalli, sowie Entwicklung eines Oligohydramnions verzichtet werden. Bei strenger Indikationsstellung könnte jedoch die einmalige Gabe von 1g dieser Substanz i.v. erwogen werden, wenn zur weiteren Schmerztherapie in der Klinik auf das Mittel der Wahl, dem Paracetamol, ausgewichen wird.
    Nitro-Spray ist ebenfalls bekannt für seine spasmolytische Wirkung, jedoch erscheint es bei den hier vorherrschenden Kreislaufverhältnissen eher ungünstig und generell bei Koliken der ableitenden Harnwege unüblich einzusetzen, obgleich eine Relaxation des Myometriums erwünscht wäre. Zum selben Zweck vorstellbar, jedoch nicht evident, ist auch die i.v.-Applikation von 2-4g Magnesium über 10-20 min. unter Kontrolle der Atem-, Herz- und Kreislauffunktion, sowie der Patellarsehnenreflexe. Zur Diskussion steht auch die Auswahl eines Opioides bei unzureichender Schmerzstillung, oder als primäre Kombination mit Buscopan bei Verzicht auf Metamizol bzw. Magnesium.
    Denkbar ist hier der Einsatz beider gelisteten Medikamente dieser Gruppe. Fentanyl erscheint für diesen Fall zu stark, aber könnte vlt. schon mit 50µg effektiv wirken. Morphium würde mit 5-10mg i.v./alternativ s.c. Linderung bringen. Beide Analgetika können opioid-typische Nebenwirkungen hervorrufen. Dazu gehören Sphinkterspastiken, Sedierung, sowie Atem- und Kreislaufdepression der Mutter, weshalb auch ihre Vitalparameter überwacht und ggf. Sauerstoff via Brille/Maske verabreicht werden sollte (SpO2 bei 94% !!!). Die Anamnese der jungen Frau legt die Indikation einer prophylaktischen antiemetischen Therapie mit Vomex A 62mg i.v., oder besser 10-20mg MCP i.v. je nach Verfügbarkeit nahe.
    Das akute Krankheitsbild der Patientin kann auch das spontane Auftreten von Wehen begünstigen, sodass bei einer möglichen Frühgeburt, eine Atemdepression des Neugeborenen durch die Opiod-Analgesie auftreten kann. 
    Da eine möglicherweise nötige Notfalltokolyse mit den verfügbaren Medikamenten präklinisch nicht sinnvoll durchführbar ist, sollte unter Inanspruchnahme von Sonder- und Wegerechten der zügige Transport der Patientin in ein Krankenhaus mit mindestens perinatalem Schwerpunkt angestrebt werden. Möglicherweise ist es sogar wünschenswert, ein Level-2-Zentrum anzufahren, wenn dieses zeitnah erreichbar ist.
    Unabhängig davon sollte der Fetus schon allein wegen der Medikamentengabe im Verlauf sonographisch überwacht, sowie ein Kontroll-CTG erstellt werden.
    Als Ursache für die Nierenkolik kommt neben einem möglichen Nierenstein auch die Kompression des Ureters durch den Uterus in Frage. Hier kann schon das Formen eines Rückenbuckels, oder eine Rechtsseitenlage (cave: Vena-cava-Kompressionssyndrom) Linderung bringen. Eine Harnabflussstörung/-stauung mit begleitendem Infekt, müssen in der Klinik via Bildgebung (Sono), Urin- und Blutuntersuchung abgeklärt werden. Das weitere Vorgehen besteht je nach Befund aus konservativem Zuwarten auf spontanen Steinabgang, endoskopischer Steinextraktion, künstlicher Harnableitung, oder Harnwegsschienung (Doppel-J-Katheter), sowie antibiotischer Therapie.
    Alles in Allem stehen wir hier vor einem auf den ersten Blick standardmäßig abzuarbeitenden Einsatzauftrag. Die Gravidität der Patientin, sowie die präklinisch begrenzte Verfügbarkeit von in der Schwangerschaft empfohlenen Pharmaka, schenkt dem Fall Diskussionspotential. Persönliche Erfahrungen und Ansichten führen hierbei sicherlich zu verschiedenem Vorgehen bezüglich medikamentöser Maßnahmen.

  2. Ergänzung:

    Die Ausführungen zu den Medikamenten sind ziemlich akademisch gefasst. So ist in der 18. SSW nicht mit einem lebensfähigen Neugeborenen zu rechnen, sodass eine neonatale Atemdepression ohne Relevanz bleibt. Auch ein CTG wird in dieser Woche praktisch nur schwierig anzufertigen sein. Im Falle einer Frühgeburt zu einer späteren SSW<29+0 bzw. <1.250g Gewicht sollte sogar ein Level-1-Zentrum angestrebt werden, welches in der 18. Woche bei primärer Zuführung bestimmt auch nicht mehr bewirken kann als eine “normale“ Geburtsklinik. Im hiesigen Falle geht es deshalb neben dem Wohl der Mutter um die Abwendung eines Spätabortes.

  3. Ich fürchte meine Überlegungen an der Einsatzstelle wären etwas weniger "ausführlich"…

    Interessant ist der Hinweis, dass sich die Pat vor 2 Tagen "auf Drängen" bei Pyelonephritis entlassen hat. Wurde die Antibiose denn ambulant weiter genommen? Wie siehts mit der Körpertemperatur aus? Irritierend ist zudem ein RR von 110 mmHg systolisch bei doch stärksten Schmerzen. Auch ein Puls von "nur" 86 bpm irritiert. Ist die spO2 von 94% nachvollziehbar? Atemfrequenz? Palpationsbefund des Abdomen? 

    Zusammenfassend kommt neben der (für mich eher unwahrscheinlichen) Dignose einer Urolithiasis auch eine Komplikation nach PN infrage (Abszess, beginnende Sepsis?) oder ggf. eine bisher nicht erkannte zusätzliche EUG? 

    Schmerztherapeutisch wäre bei einer Lithiasis Metamizol Mittel der Wahl. Ab dem 2. Trimenon aber zunehmend bedenklich. Daher würde ich auf Fentanyl zurückgreifen, auch wenn die Wirksamkeit bei der Urolithiasis eher begrenzt ist (sollte es gut wirken würden die DD weiter favorisiert). Die mögliche Übelkeit würde ich abwarten und erst bei Auftreten entsprechend behandeln (Vomex kann kurzfristig in der Schwangerschaft eingestzt werden). Buscopan wird bei Urolithiasis nicht mehr empfohlen. An Nitro würde ich nicht mal denken. 

    Da die Pat in der 18. SSW ist kann auf eine Pädiatrie verzichtet werden. Ich würde aber ein Haus mit Urologie und Gynäkologie anfahren, was zumindest in meinem Rettungsdienst-Kreis einem Maximalhaus sogar mit Level-1 entspräche 😉

    Bin gespannt auf die Auflösung!

  4. Richard W. und Marcel haben sehr interessante und wertvolle Anmerkungen zur den präklinischen Behandlungsoptionen gemacht.

    Danke für die Diskussionsbeiträge.

     

    Weiterer Verlauf des Dezemberfalls 2016:

     

    Es wird noch am Einsatzort Telefonkontakt mit der vorbehandelnden gynäkologisch-geburthilflichen Klinik aufgenommen. Nach telefonischer Rücksprache mit der diensthabenden Gynäkologin kann (unter Berücksichtigung des mitgeteilten RTW-Medikamentenbestandes) das N- Butylscopolamin eingesetzt werden.

    Es wird eine bequeme entspannte Lagerung der Patientin mit Knierolle eingeleitet und ein zügiger Transport mit Sondersignal in das vorbehandelnde Krankenhaus (mit zertifizierter erhöhter Behandlungskompetenz Level 1 und urologischer Belegabteilung) begonnen.

    Metamizol scheidet zur Schmerztherapie aus, wie auch Richard W. im Diskussionsbeitrag ausführlich dargestellt hat.

    Bei den o.g. Vitalparametern der 18-jährigen schwangeren Patientin wäre eine Analgesie mit Fentanyl möglich, wie auch Marcel bereits angemerkt hat . ist die Wirksamkeit aber bei der Urolithiasis eher begrenzt. Buscopan wird bei Urolithiasis nicht mehr empfohlen. .

    Während des Transportes erfolgt die intravenöse Gabe von N-Butylscopolamin ( trotz der strittigen Wirksamkeit bei Urolithiasis) , wodurch zumindest zeitweilig eine Beschwerdereduktion erreicht werden kann.

     

    Die Patientin wird sofort in den Notaufnahmeraum der gynäkologischen Abteilung transportiert und der diensthabenden Gynäkologin vorgestellt.

    Unmittelbar nach Beendigung der Übergabe wird der Notarzt zu einem neuen Einsatz gerufen.

    Nach anschließender Abfrage des weiteren Behandlungsverlaufes wird vom Oberarzt der gynäkologischen Abteilung mitgeteilt, dass bei der vaginalen Untersuchung ein komplett geöffneter Muttermund bei Schwangerschaft in der 18. Schwangerschaftswoche festgestellt wurde, woraufhin die Beendigung der Schwangerschaft eingeleitet werden musste.

    Bemerkenswert ist im aktuellen Fall, das ein vaginaler Blutabgang oder eine auffällige Flüssigkeitsdurchfeuchtung der Unterwäsche nicht aufgetreten waren.

    Wie Richard W. im Diskussionsbeitrag angemerkt hatte, ist eine unilaterale Schmerzlokalisation für vorzeitige Wehen auch eher untypisch.

    Das im Vorfeld abgelaufene Entzündungsereignis (Pyelonephritis) könnte laut Krankenhaus-Gynäkologen maßgeblich auslösend für diesen tragischen Verlauf gewesen sein.

     

    Anmerkung:

    Die telefonische (Vor-Ort-)Kontaktaufnahme mit einer kompetenten geburtshilflichen Krankenhaus-Abteilung kann in solchen Fällen durchaus empfohlen werden.

    Bei vor Ort vorhandenem Smartphone kann alternativ auch auf Apps wie z.B. „Embryotox“ zurückgegriffen werden.

    In manchen Fachbüchern gibt es auch herausnehmbare hilfreiche Listen der in verschiedenen Schwangerschaftsstadien nutzbaren Medikamente für die Kitteltasche ( z.B. im Buch von Schäfer Spielmann )

     

    Aufgrund des genannten Fallverlaufs wird mit der ärztlichen Leiterin des Rettungsdienstes über eine Ergänzung des Medikamentenbestandes von NEF und RTW gesprochen ( z.B. Perfalgan) .

     

    Dr. Gerrit Müntefering

    Arzt für Chirurgie/Unfallchirurgie/Notfallmedizin

    Lessingstraße 26

    47445 Moers

Schreibe einen Kommentar zu Richard W. Antworten abbrechen

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert