Fall des Monats Juni 2017

Alarmierungsmeldung:

Alarmierungsmeldung um etwa 19:30 Uhr mit dem Stichwort „Anaphylaktische Reaktion“ in einer kassenärztlicher Notfallpraxis. Obwohl die Praxis nur einen KTW anfordert entsendet die Leitstelle aufgrund der Beschreibung des Notfalles direkt RTW und NEF, welche zeitgleich eintreffen.

Situation vor Ort:

Der vor der Praxis auf das Team wartende Arzt erklärt dem Rettungsteam, sie sollten die „Bahre“ mitbringen und die Patientin in die etwa 2,5 km entfernte Klinik mit internistischer Abteilung zu transportieren. Mit dem Hinweis, sich zunächst selbst vom Zustand des Patienten überzeugen zu wollen, betritt das Rettungsteam die Praxis.  Dort wird eine 35 Jahre alte Frau in Oberkörpertieflage auf einer Untersuchungsliege vorgefunden. Vom Aspekt her blasse, schwitzige Haut und  beim erstmaligen Perfusionscheck eine Rekapillarisierungszeit über 2s.

Angaben zum aktuellen Ereignisablauf:

Der Arzt  übereicht eine Einweisung und den Transportschein und will sich direkt mit dem Hinweis auf andere Patienten verabschieden. Vom Rettungsteam werden dann aber noch weitere Angaben zur Anamnese erbeten:

Der niedergelassene Arzt berichtet, dass sich die Patientin  mit seit 4 Wochen bestehenden Rückenschmerzen in der Notfallpraxis vorgestellt habe, die allerdings am heutigen Tag zugenommen hätten. Außerdem seien nun Bauchschmerzen im linken Oberbauch hinzugekommen. Als Erstmaßnahme habe er daraufhin eine Ampulle Novalgin (2,5g) als Kurzinfusion und eine Ampulle Buscopan verabreicht. Direkt im Anschluss an die Infusionsbehandlung habe er die Patientin in Begleitung ihres Ehemanns wieder nach Hause geschickt.

Der Ehemann habe seine Frau dann aber wenige Minuten später wieder in die Praxis gebracht, nachdem sie auf dem Parkplatz kollaptisch wurde, wobei er einen Sturz gerade noch abfangen konnte.

Bei Verdacht auf eine anaphylaktische Reaktion habe der niedergelassene Arzt dann eine Vollelektrolytlösung  über einen 20G-Zugang infundiert, anschließend den Rettungsleitstelle alarmiert und einen Platz auf der internistischen Normalstation des naheliegenden Krankenhauses organisiert. Eine aufgezogene Ampulle Fenistil sei bisher noch nicht verabreicht worden.

Erstdiagnostik:

Zeitgleich zur Aufnahme der Anamnese wird durch das Rettungsteam die Diagnostik gemäß

ABCDE-Schema durchgeführt.

A => Airway: frei, keine Schwellung, kein Zungenbiss, Schleimhäute rosig

B => Breathing: ca. 18/min, vesikuläres AG bds. , laut Patientin besteht nur eine leichte Dyspnoe, SPO2 bei sehr flacher Plethysmographie-Kurve bei etwa 94 %. Prophylaktisch werden 4 Liter Sauerstoff über Nasenbrille verabreicht.

C => Circulation: Die Rekapillarisierungszeit liegt weiterhin über 2s, der Blutdruck liegt bei weiterhin unveränderter Oberkörpertieflagerung bei 90/50 mmHg

Bei der Ableitung des Extremitäten-EKG unauffälliger Sinusrhythmus mit einer tachykarden Frequenz um 120/min.

D => Disability: Die Patientin ist wach und ansprechbar, wirkt jedoch sehr müde, GCS von 15 Punkten, keine Kribbelgefühle oder Parästhesien, keine Seh- und Hörprobleme, kein Schwindel. Pupillengröße seitengleich mittelweit, Lichtreaktion prompt

E => Environment/ Exposure: BZ 101mg/dl, Temp. 36,8 °C,. Abdomen im oberen linken Quadranten leicht gespannt, jedoch nicht druckschmerzhaft. Das übrige Abdomen ist unauffällig, auch auskultatorisch ist ein normales Darmgeräusch zu hören.

Extremitäten unauffällig, keine Quaddeln oder Pusteln, keine Ödeme

 

Dann Befragung der Patientin zur Schmerzsymptomatik nach dem OPQRST-Schema , die die 35-jährige Frau wie folgt beschreibt:

O => Onset: Beginn der Rückenschmerzsymptomatik vor etwa 4 Wochen, Beginn eines zusätzlichen Flankenschmerzes heute Nachmittag gegen 16 Uhr

P => Provokation:  beide Schmerzarten seien nicht zu verstärken. Insbesondere durch Bewegung oder durch Atmung gibt es keine Veränderung.

Q => Quality : Der Rückenschmerz sei eher dumpf gewesen, seit Einsetzen der Bauch-Flankenschmerzen sei das Gefühl eher reißend

R => Radiation: Die Rückenschmerzen sind am Übergang von Brust- auf Lendenwirbelsäule lokalisiert und strahlen über die linke Flanke nach vorne aus. Sie gehen dabei in die neu aufgetretenen Bauchschmerzen über, die im linken Oberbauch lokalisiert sind

S => Severity : die Schmerzen seien sehr stark, etwa bei 7 bis 8 auf der Visuellen Analogskala

T => Time:  der Rückenschmerz sei die ganze Zeit unverändert gewesen, erst mit Einsetzen des Bauchschmerzes habe sich der Charakter von dumpf zu reißend entwickelt

 

Anschließend erfolgt die Vervollständigung der Anamnese nach dem SAMPLE-Schema durch das Rettungsteam:

S => Symptoms: Kreislaufprobleme nach Medikamentengabe

A => Allergies: keine Bekannt, vor allem auf Novalgin und Buscopan seien in der Vergangenheit keine allergischen Reaktionen aufgetreten

M => Medication: keine Dauermedikation

P => Past medical history: keine bekannten Vorerkrankungen, eine Schwangerschaft vor mehreren Jahren (der 4-jährige Sohn ist anwesend) sei komplikationslos verlaufen.

L => Last oral intake: Letzte Mahlzeit um etwa 14 Uhr, letzter Stuhlgang am Morgen, letztes Wasserlassen sei vor dem Arztbesuch gewesen ( unauffällige Ausscheidungen) .

E => Events prior to incident: Die 35-jährige Frau  sei  bis zuletzt normal der Büroarbeit nachgegangen. Abgesehen davon, dass vor etwa 4 Wochen die Rückenschmerzen angefangen hätten, sei nichts weiter Außergewöhnliches passiert. Eine Schwangerschaft sei nicht sicher auszuschließen, aber eher unwahrscheinlich

 

Zusätzlich Erhebung der Familienanamnese: Die Mutter der Patientin ist an einem rupturierten Aortenaneurysma verstorben.

 

Kontrolldiagnostik im Verlauf:

Nochmalige Kontrolle des Blutdrucks , diesmal beidseitig gemessen:

Seitengleicher Blutdruck um 85mmHg systolisch.

 

Das nächstgelegene Krankenhaus mit neurologischer und internistischer Abteilung (ohne chirurgische Abteilung) liegt 2,5 km entfernt.

Das nächstgelegene Klinikum der Maximalversorgung befindet sich in einer Entfernung von 36 km.,

Die nächste Krankenhaus mit chirurgischer Abteilung (und zusätzlicher gynäkologisch-geburtshilflicher Abteilung) liegt in einer Entfernung von 17 km.

 

Weiteres Prozedere?  

(Arbeitsdiagnose? präklinische Therapie? Zielklinik?)

 

Fortsetzung des Juni- Falls 2017

 

Man entschließt sich für einen schnellen Transport in die internistische Notaufnahme des nahegelegenen Krankenhauses mit telefonischem Arzt-zu Arzt-Gespräch zur Voranmeldung.  Nach Mitteilung der Vorgeschichte und des Befundes an den Diensthabenden wird auch die Vorbereitung einer notfallmäßigen Ultraschall- oder CT-Diagnostik bereits angesprochen. Der Diensthabende Internist  bittet daraufhin, direkt auf die Intensivstation zu fahren, wo nötiges Material und Personal bereit stehe.

Während des Transportes wird ein zweiter großlumiger i.v.-Zugang angelegt und eine VEL infundiert. In der Klinik erfolgt die detaillierte Schilderung von Anamnese, Befund und Verlauf an den diensthabenden Oberarzt der Intensivstation und den Internisten der Notaufnahme.

Mangels Chirurgie kann leider kein chirurgischer Arzt der Untersuchung beiwohnen.  Von Seiten des Rettungsteams wird angemerkt, dass neben der  vom niedergelassenen Arzt geäußerten Diagnose der anaphylaktischen Reaktion auch eine hämorrhagisch bedingte Kreislaufdepression möglich sei.

Ein noch auf der Trage des Rettungsdienstes durchgeführter Ultraschall zeigt  freie Flüssigkeit  in der Mizloge. Ein sofortiger Weitertransport in eine Klinik mit Viszeralchirurgie und Gefäßchirurgie wird eingeleitet.  Der Hubschrauber kann zum Transport bei angebrochener Dunkelheit leider nicht mehr eingesetzt werden.

Zügige Vorbereitung eines Urapidil-Perfusors , Mitgabe eines Erythrozytenkonzentrats sowie eines Beutel gefrorenes Frischplasmas. Innerhalb weniger Minuten ist der Weitertransport startfertig. Mit dieser Kombination (Kreislaufstabilisation, Erythrozyten-und Plasmaersatz)  kann die Patientin auf niedrigem Niveau stabil gehalten werden und der Transport in das 30 Minuten entfernte Großklinikum akzeptabel durchgeführt werden .

Diagnose ?

 

Fall eingereicht von:

Andre Volpert
Rettungsassistent
Feuer- und Rettungswache Dülmen
 

8 thoughts on “Fall des Monats Juni 2017

  1. Verdachtsdiagnose: Praesynkope bei ´drug related´ hypotension und unklarem Abdomen

    dd z.B. Aortensyndrom od. z.B. (stielgedrehte) Ovarialzyste + muskulo-skelettale Beschwerden, auch ein thrombembolisches Ereignis wäre möglich.

    Eine anaphylaktische Reaktion im Sinne einer klassischen allergischen Rektion halte ich persönlich eher für unwahrscheinlich

    Behandlungsvorschlag: allg. Kreislauftherapie (Fortsetzung der Infusionstherapie) und Analgesie, ggf. Therapie mit Cortison und Antihistaminika in Erwägung ziehen (wird wahrscheinlich nicht viel nützen aber auch nicht schaden ??). Den Einsatz von Katecholaminen würde ich kritisch abwägen, einen Zielblutdruck von 100mHg syst. würde ich bei unklarer Grunderkrankung anvisieren.

    Transport in Klinik mit CT, Chirurgie, Gynäkologie, Innere od. direkt Maximalversorger.

  2. Gedeckt ruptuiertes BAA mit daraus resultierender Schocksymtomatik. Zweiter möglichst Großlumiger Zugang und fortführen der kreislaufstabilierenden Infusionstherapie. Transport mit mit Vorankündigung zum nächsten Schockraum / CT. Wenn keine Interventionsmöglichkeit von Seite der chirurgischen Kollegen möglich, luftgebundener Transport in eine Klinik der Maximalversorgung.

  3. Klinisch ist unsere Patientin in einem Schockzustand. Nach der Beschreibung würde ich aber eher von einem Blutungsschock, als von einer Anaphylaxie ausgehen. Man kann es sich zwar bei einer sonst gesunden 35jährigen kaum vorstellen, bei dem Beschwerdeverlauf, der Art der Schmerzen, der nun bestehenden Schocksymptomatik und der Familienanamnese MUSS m.M. nach eine nun blutende Aortenläsion (gedeckte Perforation, Dissektion) ausgeschlossen werden.  Ich spreche da aus leidvoller eigener Erfahrung.

    Konsequenz: schnellstmöglich Transport in ein gefäßchirurgisches Zentrum. Wenn man die Diagnose in einem peripheren Haus im CT stellt, geht zu viel Zeit verloren… 

  4. Mein Verdacht… Eileiterschwangerschaft mit Ruptur… die Rückenschmerzen in den vorherigen Wochen können durchaus gegeben sein. Anaphylaxie denke ich nicht. 

  5. Zustimmung bezüglich der Verdachtsdiagnosen. Wie wäre es, die ungewöhnlichen Mittel an diesem Einsatzort zu nutzen. Einmal Sono draufhalten, kostet kaum Zeit und der Verdacht bezüglich der Aorta lässt sich ggf. bestätigen. Falls die Aorta gut darstellbar ist, keine Auffälligkeiten zeigt, und im Haus vor Ort ein CT zur Verfügung steht, Volumengabe und Transport ins periphere Haus. Im Zweifel direkter Transport zur Gefäßchirurgie.

  6. Arbeitsdiagnose:
    – chronische Aortendissektion (Typ B) mit akutem Progress unter Beteiligung der linken Nierenarterie, DD (gedeckte) Ruptur 

    – DD Anaphylaktoide Reaktion auf Novalgin

    Präklinische Therapie:
    – highflow Sauerstoff
    – Kompensation/Vermeidung weiterer Blutdruckdestabilisierung
    – 2x 16G Venenzugang, angepasste Gabe Vollelektrolytlösung
    – ggf. vorsichtige Titration von Katecholaminen
    – engmaschiges Monitoring
    – Intubationsbereitschaft

    Zielklinik:
    – sofern Dynamik eher stabil Maximalversorger, je Nach Verkehrslage und möglichem lokalem Zeitgewinn aktivierung RTH
    – sofern Dynamik zunehmend instabil Anfahrt der nächsten chirurgischen Abteilung ohne zeitlichen Verzug, load go and treat

     

     

  7.  

     

    Nun die spektakuläre Auflösung zum Fall des Monats Juni 2017:

    Die Patientin wird im Großklinikum unverzüglich per Angio-CT untersucht. Dabei wird ein geplatztes Milzarterienaneurysma festgestellt, welches notfallmäßig operativ versorgt wird.

    Die OP verläuft ohne Probleme und die Patientin kann wenige Tage später das Krankenhaus wieder verlassen.

    Besten Dank nochmal für diesen interesssanten Fall an

    Andre Volpert

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert