Fall des Monats Januar 2017

Alarmierungssituation (Nachbarschaftshilfseinsatz des NEF) :

Gegen 23:30 Uhr Nachforderung des Notarztes durch den RTW des Nachbarbezirks zur Schmerztherapie bei einem Patienten mit stärkeren Bandscheibenbeschwerden

 

Verlauf vor Eintreffen des Notarztes:

Unmittelbar nach Ausrücken des Notarzteinsatzfahrzeugs erfolgt die telefonische Kontaktaufnahme des vor Ort anwesenden Notfallsanitäters mit dem Notarzt:

Die Beschwerden des Patienten mit arabischer Herkunft hätten das Punktum maximum im oberen LWS-Bereich. Bei Fremdsprachigkeit ist die Kommunikation nur mit Dolmetscher möglich. Die Beschwerden seien – nach Angaben eines Dolmetschers- ohne vorangegangene körperliche Belastung nach einer leichten Rumpfdrehbewegung aufgetreten und seien nun stark ausgeprägt mit heftig stechenden Schmerzen (allerdings ohne typisch kolikartigen Schmerzcharakter). Bei Erstkontakt  keine Ausstrahlung der Schmerzen in die Flanke, in die Leiste oder in die untere Extremität. Der Transfer des Patienten in den RTW sei aufgrund dieser Schmerzsymptomatik deutlich erschwert und musste bei Unruhe des Patienten zeitweilig abgebrochen werden.

Aufgrund dieser ausgeprägten Symptomatik erfolgt die Anfrage des Rettungsassistenten, ob eine Analgosedierung mit Ketamin und Midazolam bereits im Vorfeld eingeleitet werden könne, da der Anfahrtsweg des NEF zum Nachbarbezirk wohl länger (über 15 Minuten)  dauern dürfte.

Die Kreislaufverhältnisse des Patienten seien stabil und im Normbereich.

 

Der Notarzt schlägt aufgrund der nicht eindeutig zuzuordnenden Symptomatik vor, eine Analgosedierung zumindest vorzubereiten und einen intravenösen Zugang anzulegen. Bei Befundänderung wird rasche Rückmeldung erbeten.

 

Anamnese- und Befunderhebung  nach Eintreffen des Notarztes:

Bei ungünstigen Witterungsverhältnissen trifft das NEF erst 17 Minuten nach Ausrücken mit dem RTW zusammen. Der RTW hatte sich -nach Klärung der freien Bettensituation- bereits in Richtung einer Klinik mit orthopädischer Abteilung in Marsch gesetzt.

Der Rettungssanitäter des erstversorgenden RTW’s berichtet, dass er aufgrund der anhaltenden intensiven Schmerzen des 52-jährigen Patienten 7 Minuten zuvor 3 mg Midazolam und 50 mg Ketamin intravenös injiziert habe ( ohne Rücksprache mit dem NEF).

Es wurde mit einem EKG- und Pulsoxymetrie- Monitoring begonnen ( Extremitäten-Ableitungen)  .

Der Patient liegt auf der RTW-Trage in Rückenlage. Der mitgefahrene Dolmetscher kann hinzugezogen werden. Der Notfallpatient klagt – nach wie vor- über starke Schmerzen, die er allerdings nun im oberen und mittleren BWS-Drittel (zwischen beiden Schulterblättern) lokalisiert und die seit mehreren Minuten auch in die linke Schulterregion ausstrahlen würden.

Die Extremitäten-EKG-Ableitung ist verzittert und dann auch korrekturbedürftig, da sich 2 Klebe-Elektroden bei vermehrtem Schwitzen des Patienten gelockert haben.

Der Blutdruck sei 5 Minuten zuvor mit 145 / 80 mmHg gemessen worden. Die Sauerstoffsättigung habe primär bei 90 % gelegen. Danach sei eine SPO2-Messung allerdings bei möglichem Wackelkontakt oder Kabelbruch nicht mehr kontinuierlich und effektiv möglich gewesen.

 

Der Notarzt befragt den Patienten mittels Dolmetscher zu seiner Vorgeschichte und der aktuellen Beschwerdeentwicklung. Es stellt sich heraus , das der Patient eigentlich kein Arztgänger sei. Eine kardiologische oder pulmonologische und auch eine orthopädische Diagnostik ist bisher nicht erfolgt. Der Patient ist übergewichtig ( 170 cm / 92 kg) und starker Raucher. Eine vorangegangene stärkere Hebebelastung wird nochmals verneint. Die Beschwerden seien nach einer nicht außergewöhnlichen Rumpfaufrichtbewegung mit Rumpfdrehung aufgetreten.

Die Prüfung von Motorik und Sensibilität der oberen und unteren Extremität ergibt keine sensomotorischen Ausfälle. Die Ischiasdehnungszeichen sind negativ.

Bauchdecke weich. Kein Nierenlager-Klopfschmerz oder Druckschmerz. Atemexkursionen als schmerzbedingte Schonatmung leicht eingeschränkt, aber seitengleich. Thoraxauskultation bei schmerzbedingter Schonatmung nur eingeschränkt verwertbar. Keine Abschwächung des Atemgeräuschs, soweit beurteilbar.

 

Der Blutdruck der oberen Extremitäten wird mit 165/95 mmHg am rechten Arm des Patienten und mit 140/70 mmHg am linken Arm gemessen. Die Leistenpulse sind re. mittelkräftig und links eher schwach palpabel.

Das nun neu angelegte 12-Kanal-EKG zeigt angedeutete deszendierende ST-Streckensenkungen in Ableitung 2, 3 und AVF sowie in V5 bis V6.  Das EKG zeigt außerdem eine kurzzeitige tachykarde Arrhythmie-Phase ( 3 Tripletts in kurzer Abfolge mit schmalen Kammerkomplexen)  mit anschließend wieder rhythmischer Herzaktion und leicht erhöhter Frequenz bei 95 / Minute. SaO2 bei 92 %.

 

Der Rettungsassistent fragt , ob er aufgrund des nun thorakalen Schmerzsyndroms in Verbindung mit den EKG-Veränderungen Aspirin und Heparin aufziehen soll.

 

 

Welche weitere Procedere ist im aktuellen Fall sinnvoll ?

Welche Arbeitsdiagnose(n) steht / stehen im Vordergrund ?

Ist die eingeleitete stationäre orthopädische Behandlung weiterhin zu priorisieren ?

 

Dr. Gerrit Müntefering
Arzt für Chirurgie / Unfallchirugie / Notfallmedizin
Lessingstr. 26
47445 Moers

5 thoughts on “Fall des Monats Januar 2017

  1. VD: Unklare Thoraxschmerzen dd akutes Aortensyndrom dd ACS dd vertebragene Genese

    Gemäß dem Motto: "Treat first what kills first" gehört der Patient in ein Haus, welches ein akutes Aortensyndrom/ACS adäquat versorgen kann.

    Therapievorschlag im RTW: O2-Gabe (sodass SpO2 >94%), Analgesiefortführung mit einem Opiat + Antiemese, RR-Senkung mit Metoprolol, falls unzureichend additiv ggf. Ebrantil, Ziel RR < 120-100mmHg syst.

    Ein Nachgespräch über den Einsatz mit den Kollegen wäre sinnvoll.

  2. Arbeitsdiagnose: Lungenembolie DD Aortendissektion mit Re-Entrytachykardie
    Weiteres Procede: Keine Blutdrucksenkung, Blutdruck auf derzeitigem Niveau aufrechterhalten. O2-Gabe OKH 30°, zügiger Transport unter Voranmeldung
    Zielkrankenhaus: Maximalversorger (Schockraum hochfahren lassen)

  3. Beim lesen des Falles bekomme ich das Gefühl, hier geht es nicht so sehr um das weitere Procedere, sondern mehr darum, sich über das nichtärztliche Rettungsdienstpersonal zu echauffieren.

    "…des vor Ort befindlichen Notfallsanitäters..", "…erfolgte die Anfrage des Rettungsassistenten…", "… der Rettungssanitäter habe… injiziert", "der Rettungsassistent fragt..". Welchen Ausbildungsstand hatte denn nun der Transportführer?

    Welche Relevanz hat der Abschnitt "Der Rettungsassistent fragt, ob er aufgrund des nun thorakalen Schmerzsyndroms in Verbindung mit den EKG-Veränderungen Aspirin und Heparin aufziehen soll." für Ihre Fragestellungen?

    Der Fall selber ist durchaus erwähnenswert, da relativ selten. Zur AD und dem weiteren Procedere schließe ich mich Sebastian B. an. Meiner Meinung nach (auch aus Erfahrung) gehört der Patient, bei V.a. Aortendissektion, in ein Haus mit Herz- Thorax Chirurgie und Kardiologie/HKL (i.d.R. Maximalversorger).

    Als Notfallsanitäter möchte ich hier gerne Stellung zum Verhalten des Rettungsdienstpersonals nehmen: Ein traumatischer Schmerz scheint hier nicht vorzuliegen, ebensowenig nichttraumatische abdominelle Schmerzen. Daher ist die analgosedierung durch NotSan/RA zumindestens gewagt. Dies war dem Team bewusst, daher haben sie sich um Rücksprache mit dem anrückenden NEF bemüht. Dann ohne Zustimmung des Notarztes die Analgesie durchzuführen, ist schon mehr als gewagt, wobei der Satz "…schlägt der Notarzt vor, eine Analgosedierung zumindest vorzubereiten…" durchaus Interpretationsspielraum lässt. Ein Standardmonitorung (inkl. valider SaO2!) muss erfolgen, ebenso wie zwingend (für NotSan/RA) eine O2- Gabe bei einer Analgesie erfolgen muss, dies ist der derzeitige Ausbildungsstand (auch in allen mir bekannten SOP/SAA), bei schlechter Sättigung natürlich ohnehin.

    Zudem kann einem NotSan und auch einem RA die Verdachtsdiagnose Aortendissektion zugetraut werden, vielleicht gab es hier Fehler aufgrund der schwierigen Verständigung, vielleicht hat sich das Team zu schnell in ihre primäre VD verrannt.

    Auch hier schließe ich mich Sebastian B. an, eine Nachbesprechung des Einsatzes ist sicher sinnvoll, auch um Ziele und Maßnahmen des nichtärztlichen Personals zu erörtern und ggfs. korrigieren zu können.

    Wie bereits gesagt, ein interessantes Fallbeispiel, es hätte nur vielleicht etwas weniger polemisch dargestellt werden können.

  4. "Bei allen Patienten mit AD (Aortendissektion) wird eine medikamentöse Therapie einschließlich Schmerzstillung und Blutdruckeinstellung empfohlen", Quelle ESC Pocketleitlinie Aortenerkrankungen 2015.

    Manche Leitlinien älteren Datums propagieren sogar, dass "die schnellstmögliche Blutdrucksenkung" auf normotone Werte "eine der wichtigsten Maßnahmen zur Mortalitätsreduktion" sei, Quelle ESC 2007 u. JNC7 2003.

  5. Kommentierung des Januarfalls 2017

    Ich denke, der weitere Fallverlauf ist im nachhinein eher dazu geeignet, den letztendlich richtigen Riecher des erstversorgenden Rettungsassistenten ( nicht Rettungssanitäter !)  hervorzuheben.

    Der erstversorgende Rettungsassistent sollte daher ehrenhalber das Pseudonym „klugerSani “ erhalten. Der nicht vorhersehbare Akutausfall des Pulsoximeters und die schweißbedingte schlechte Haftung der EKG-Elektroden sind m.E. als wiedrige Bedingungen zu bewerten, die nach Rendezvous mit dem NEFzügig korrigiert werden konnten.

    Der Januarfall zeigt, dass Notfallmedizin nicht immer klar und eindeutig ist, sondern teilweise auch spannnend und undurchschaubar ist

    Der Januarll gehört zu den Kasuistiken, die leider nicht im 3-Zeilen-Kommentar in zackiger Kürze abzuhandeln sind.

    Weiterer Fallverlauf :

    Der Notarzt stand auf dem selben Gleis wie das Diskussionsforum und versuchte, den Transport von der orthopädischen Zielklinik  in eine nahegelegene Klinik der Maximalversorgung umzuleiten, was glücklicherweise auch problemlos gelang.

    Der Transport verlief dann unter fraktionierter Opiat-Gabe komplikationslos und mit rückläufigem Schmerzniveau des Patienten.

    Weiterer klinischer Verlauf:

    Die apparative Akutdiagnostik in der Klinik der Maximalversorgung konnte eine Aortendissektion aussschließen.

    Es ergab sich dann aber –für alle Akteure überraschend – der Befund einer Spondylodiszitis der BWS-Segmente TH 3 /TH 4 und TH5 /TH 6 , weshalb die vom Rettungsassistenten erst-ausgewählte orthopädisch- neurochirurgisch ausgerichtete Krankenhaus-Abteilung durchaus die richtige Wahl gewesen wäre.

    Unter konsequenter Immobilisierung und intravenöser Kombinations-Antibiose ( ensprechend des Antibiogramms einer Herd-Punktion ) konnte der entzündliche Befund bisher ohne mitgeteilte Notwendigkeit eienr weitergehenden neurochirurgisch-orthopädischen Intervention eingegrenzt werden.

    Fazit: Notfallmedizin ist nicht immer einfach ! (Insbesondere bei Fremdsprachigkeit und somit eingeschränkter Möglichkeit der Anamnese-Erhebung und Beschwerdepräzisierung)

    Und die Einsatz-Nachbesprechung hatte bilanziert doch mehr lobende Elemente für den „klugenSani“ mit dem richtigen Riecher.

    Dr. Gerrit Müntefering
    Arzt für Chirurgie / Unfallchirugie / Notfallmedizin
    Lessingstr. 26
    47445 Moers

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