Fall des Monats Oktober 2015

Alarmierungsmeldung um 22 Uhr :

Älterer männlicher Patient mit Bluterbrechen

Situation vor Ort und Vorgeschichte:

Das NEF trifft 1 Min nach dem RTW am Einsatzort ein (Einfamilienhaus im Ortskern einer Kleinstadt ).

Die Ehefrau öffnet die Haustür und führt das Rettungsteam ins Schlafzimmer des Hauses.

Nach Vorerkrankungen gefragt – berichtet die Ehefrau, dass ihr 78-jähriger Mann an einer lymphatischen Leukämie erkrankt sei. Die Leukämie sei vor drei Jahren erstmals festgestellt worden. Eine zunächst begonnene onkologische Mitbehandlung habe der Patient vor 6 Monaten allerdings auf eigenen Wusch beendet.

Die Frau berichtet, dass ihr Ehemann bereits drei Tage zuvor eine geringe Menge Blut erbrochen habe. Erkrankungen des oberen Gastrointestinaltrakts seien bis dato nicht bekannt gewesen.

Das Hinzuziehen des Hausarztes habe der Patient allerdings bei diesem Erstereignis abgelehnt.

Am heutigen Tag habe ihr Ehemann seit Mittag dann erneut und mehrfach größere Mengen Blut erbrochen. Das Hinzuziehen des Hausarztes habe er wieder energisch abgelehnt.

Er sei dann aber gegen Abend sehr schwach geworden und sei beim Aufstehen fast kollabiert, so dass die Ehefrau nun den Notarzt alarmiert hätte.

Erstbefund:

Im Bett liegt eine 78-jähriger Mann mit blassem Hautkolorit. Am Bett steht ein 5-Liter-Eimer, der zu knapp einem Drittel mit Erbrochenem (zum größeren Teil Hämatin) gefüllt ist.

Es erfolgt die sofortige Bestimmung der Vitalparameter:

Blutdruck 95 / 60 mm HG, Puls 105 pro Minute, leicht arrhythmische Herzaktion.

Sauerstoffsättigung: 89 %

 

Erstmaßnahmen:

Der Notarzt bittet um sofortige Vorbereitung 2 großvolumigen i.v.-Zugängen und zeitgleich um telefonische Vorklärung durch die Rettungsleitstelle nach einem freien Intensivbett.

Nach Aufklärung des Patienten über das geplante Prozedere lehnt dieser jedoch alle vorgeschlagenen Maßnahmen und auch den geplanten Kliniktransport ab.

Der Patient wird eindringlich auf die aktuell lebensbedrohliche Situation hingewiesen.

Er verweigert alle Akutmaßnahmen.

Frage:

Weiteres Procedere?

7 thoughts on “Fall des Monats Oktober 2015

  1. 1.) Ich würde versuchen herauszufinden, ob der Pat. zu allen Qualitäten orientiert ist, soweit in der Akutsituation mgl.

    2.) Ich würde nach einer Patientenverfügung fragen, und mir diese ggf. vorlegen lassen.

    3). Ich würde den Patienten zusammen mit der Ehefrau soweit mgl. erneut eindringlich über die akute Lebensgefahr und alle Konsequenzen bis hin zum Tode aufklären.

    4.) Wenn ich zu dem Schluss komme, dass der Patient selbst entscheiden kann und weiterhin eine Behandlung verweigert, würde ich dies ausführlich dokumentieren, ggf. noch ein Gespräch mit weiteren Angehörigen suchen und den Patienten vor Ort belassen mit dem Hinweis, dass eine erneute Kontaktaufnahme zur Leitstelle jederzeit mgl. wäre.

  2. Nach den vom Kollegen Sebastian B. vorbeschriebenen Nachfragen und Abklärungen bietet sich eine ambulante palliativmedizinische Versorgung an. Dies ist im Rahmen der SAPV möglich. So kann der Patient zu Hause bleiben,  erhält aber ärztliche und pflegerische Unterstützung und Symptomkontrolle.

  3. Die erhobenen Vitalparameter lassen auf einen hämorrhagischen Schock schließen.

    ich halte den Patienten unter den gegebenen Umständen nicht für geschäftsfähig und würde ihn in Absprache mit der Ehefrau, ggfs nach Kontakt mit dem Hausarzt , auch gegen seinen Willen mit ins Krankenhaus nehmen . In wie weit dort dann invasiv therapiert wird, kann dann immer noch entschieden werden. 

    Als Notarzt haben wir eine Garantenstellung ! 

  4. Der bisherige mutmaßliche Wille des Patienten der sowohl eine onkologische Behandlung als auch die hausärztliche Intervention bisher abgelehnt hat sollte hier weiterhin respektiert und nach Möglichkeit im heimischen Umfeld palliatative Maßnahmen ergriffen werden um den Leidensdruck zu nehmen. ..Bei einer unmöglichen häuslichen Versorgung im stationären Bereich. ..Eine Infragestellung der geschäftsfähigkeit wäre ethisch fraglich noch würde eine dadurch nunmehr ablaufende intensiv medizinische Versorgung ein Benefit für den Patienten bringen. Der Verlauf wäre ebenso letal nur nicht mehr würdevoll.

     

  5. Ich würde mich für eine ähnliche Vorgehensweise wie Sebastian B. entscheiden. Ich sehe hier eine Geschäftsfähigkeit gegeben, da dem Patienten die Konsequenzen seiner Erkrankung schon seit längerem bekannt sind und er dem Hausarzt zu einem vorangegangenen Zeitpunkt ebenfalls eine Therapieverweigerung mitgeteilt hat. 

  6. In diesem konkreten Fall wäre eine Bestimmung der Geschäftsfähigkeit sicherlich nicht einfach und auch eine Frage, mit der sich Gutachter kontrovers beschäftigen könnten.

    Insofern würde ich es um so wichtiger finden, das Gespräch mit weiteren Angehörigen zu suchen, um nach Möglichkeit einen allgemeinen Konsens zu erzielen, und möglichen späteren Vorwürfen durch Dritte vorzubeugen.

    Im Zeitalter von Patientenverfügung, Patientenrechtegesetz und daraus folgender Defensivmedizin kann man sicherlich sich auf seine Garantenstellung berufen, den Patienten für nicht geschäftsfähig ansehen, und die Entscheidung über das weitere Prozedere aufs Krankenhaus verlagern.

    Aber wird man damit dem offensichtlichen Willen des Patienten gerecht? Und (provokant gefragt) darf man heutzutage nur noch im Krankenhaus (auf der Intensivstation bei laufendem Monitor) aus dem Leben treten?

    Die Lösung mit dem Angebot einer ambulanten Palliativversorgung wäre nach meinem Verständnis ein vertrebarer Kompromiss.

  7. Anmerkungen zum Fall des Monats Oktober 2015

     

    Alle Fallstricke dieses Notfalls aber auch gute Lösungsmöglichkeiten sind in der bisherigen Diskussion des Forums bereits angesprochen worden.

     

    Eine Patientenverfügung lag im vorliegenden Fall nicht vor.

    Die anwesende Ehefrau des Patienten wurde befragt, ob weitere Angehörige eventuell zeitnah hinzugezogen werden könnten. Sie berichtete daraufhin, dass sie ihren Sohn bereits mehrfach antelefoniert habe, ihn aber bisher telefonisch nicht erreichen konnte.

     

    Die unzureichende Geschäftsfähigkeit des 78-jährigen Mannes (aufgrund der wahrscheinlich fortgeschrittenen Blutungsanämie und Schocksituation) lässt aber das Hinzuziehen von weiteren Familienangehörigen sinnvoll erscheinen, um die dringliche Behandlungserfordernis zu verdeutlichen und die Verweigerungshaltung des Notfallpatienten im größeren Kreise seiner Angehörigen darzustellen.

     

    Auch die Möglichkeit der spezialisierten ambulanten Palliativversorgung wurde angesprochen und vom Notarzt auch die Kontaktaufnahme mit dem Palliativmediziner angeboten.

     

    Weiterer Verlauf des Oktoberfalls 2015:

     

    Ein Information bzw. Hinzuziehung des Hausarztes wurde am Einsatzort telefonisch versucht, war aber um 22:30 Uhr leider nicht erfolgreich. 

    Der Notarzt wollte die Aufklärung des Patienten aufgrund seiner Transportverweigerung im Beisein seines Rettungsteams und der Ehefrau gerade beginnen, da erschien der Sohn des älteren Ehepaars in der Wohnung. Er hatte den abendlichen telefonischen Hilferuf seiner Mutter auf der Mailbox seines Mobiltelelefons leider erst verspätet abgehört.

     

    Dem Sohn wurde vom Notarzt die Dringlichkeit der Situation verdeutlicht. Daraufhin redete dieser mit Nachdruck auf seinen Vater ein und war hinsichtlich der Patienten-Compliance schließlich doch noch erfolgreich.

    Der Patient konnte unter Volumengabe über die großlumigen intravenösen Zugängen zumindest passager stabilisiert werden und in die Klinik transportiert werden. Blutdruck 100 / 60 mm HG, Puls 105 pro Minute.

    Sauerstoffsättigung unter O2-Gabe von 4l/ Min: 90 %

     

    Die endoskopische Akutdiagnostik ergab eine Ulcus duodeni-Blutung. Die Blutung konnte endoskopisch revidiert werden. Die Blutungsanämie mit Hb-Wert von 4,5 g /dl machte die Gabe mehrerer Erythrozytenkonzentrate erforderlich.

     

    Eine  Entlassung des 78-jähriger Mannes war nach einer 1-wöchigen stationären Stabilisierungsphase in akzeptablem AZ möglich.

     

    Dr. Gerrit Müntefering
    Arzt für Chirurgie / Unfallchirugie / Notfallmedizin
    Lessingstr. 26
    47445 Moers

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